Jön az öcsém (1919) – Ein Film von Mihály Kertész
Nachdem ich gestern vor dem Schlafengehen Károly Makks Szerelem (1970) gesehen hatte, und mich der ungarische Filmemacher Gábor Bódy schon seit einigen Tagen sehr beschäftigt, machte ich mich heute Vormittag im Internet auf die Suche nach mehr Informationen zu Bódy und dem ungarischen Kino im allgemeinen. Dabei stolperte ich nach einigen Stunden aber zufällig über etwas gänzlich Unerwartetes: den einzigen nach momentanem Wissensstand vollständig erhaltenen ungarischen Film von Mihály Kertész, einem Filmemacher den ich unter dem allgemein bekannteren Pseudonym Michael Curtiz schon seit längerem sehr schätze, als kostenlosen Stream im Internet.
Die Internetplattform Europa Film Treasures die den Film Online zur Verfügung stellt, scheint eine Initiative mehrerer europäischer Filmarchive zu sein, um wiederentdeckte und restaurierte Filme auch abseits von Kinovorführungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die regelmäßig erweiterte Seite stellt zudem Kontextualisierungen durch Hintergrundinformationen in mehreren Sprachen zur Verfügung. Alle Filme können dabei konsequent ebenfalls in unterschiedlichen Sprachen untertitelt gesehen werden.
Der kurze Stummfilm aus dem Jahre 1919 mit dem Titel Jön az öcsém ist wohl das letzte Werk, das Kertész in Ungarn realisieren konnte, bevor er in den 20er Jahren in Österreich Karriere machte. Die Bildqualität ist bei diesem Film für einen Internetstream sehr gut geraten, und auch die neu komponierte Filmmusik von Marc Perrone (die ich mir erst nach durchgehend stummer Ansicht des Films angehört habe) gefällt mir persönlich äußerst gut. Was mich bei Ansicht des Films erstaunt hat, ist die Tatsache, dass es sich eher um eine Bebilderung eines Textes handelt. Ein Gedicht von Antal Farkas steht im Vordergrund der Erzählung, und rhythmisiert durch zahlreiche lang eingeblendete Zwischentitel den relativ kurzen Film (11 Minuten in dieser restaurierten Fassung). Die unbeweglichen Einstellungen der Spielhandlung sind teilweise im Sinne früher Lumièrefilme äußerst präzise kadriert und oft auch auf den größtmöglichen Effekt hin inszeniert, da sie durch die vergleichsweise kurze Dauer ihrer Einblendung wohl einen direkten emotionalen Eindruck beim Zuschauer hinterlassen sollten. Der Film wirkte in manchen Einstellungen teilweise von skandinavischen und amerikanischen Filmen inspiriert (Aufnahmen aus Victor Sjöströms Ingeborg Holm (1913), Holger-Madsens Himmelskibet (1918) und Thomas Inces Civilisation (1916) kamen mir in den Sinn), erscheint in seinem Pathos aber vor allem als direkter Ausläufer zahlreicher (pazifistischer) Kriegsfilme der vorhergehenden Jahre, die sich in ihrer Ästhetik später dann auch stark auf den sowjetischen Revolutionsfilm auswirken sollten.
Das soll hier aber nur ein Hinweis und keine ausführlichere Analyse dieses formal wie auch inhaltlich durchaus zwiespältigen Films werden, da er durch die Internetpräsentation glücklicherweise von jedem Selbst betrachtet und erfahren werden kann. Weiterführende Informationen zum Film und den Hintergründen der Entstehung kann man ebenfalls auf der Webseite von Europa Film Treasures nachlesen. Abschließend nur noch die kurze Bemerkung, dass es im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung der letzten Jahrzehnte vom negativ konnotierten „Zwang der Zwischentitel“ auch viele Gegenbeispiele eines anderen Einsatzes des geschriebenen Wortes im Stummfilm gegeben hat, von dem Kertész in Jön az öcsém beredtes Zeugnis abliefert. Und in diesem Zusammenhang betrachtet erscheinen auch spätere Experimente wie beispielsweise Michael Snows So Is This (1982) in einem anderen Licht.
Ich hatte eigentlich vor den Film am Ende dieses Beitrags einzubetten, aber leider konnte ich keinen Weg finden dies zu bewerkstelligen. Daher hier nur der genauere, da direktere Link zur Adresse von Europa Film Treasures, unter dem der Film kostenlos gesehen werden kann.
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