Ein Hauch von Zen – goEast 2014 wie es wirklich war – Teil 2



Hauch von Zen

Foto: Nikolas

Samstagabend sah ich mit Michael einen weiteren Film eines kürzlich verstorbenen Filmemachers: Aleksei Balabanovs „Ich will auch“. Das enfant terrible des postsowjetischen Kinos hat stets polarisiert, irritiert, überrascht und dabei doch immer unterhalten. „Ich will auch“ ist der Film, von dem Balabanov wusste, dass es sein letzter sein würde. So ist der Tod allgegenwärtig in diesem Film, der aber bei aller Schwere irgendwie auch ein skurril lustiges Roadmovie ist. Der Film wirkt ein wenig wie ein Best Of oder ein Medley von all dem, was man von Balabanov kennt: wir haben die Verlorenen, die Gangster, die Idioten, alle versammelt, unterwegs mit dem Land Cruiser zum Glück; wir haben Szenen von endlosen Gängen, Fahrten, überhaupt Unterwegs-Sein, dazu ein lakonischer, sich oft wiederholender Soundtrack. Balabanov zeigt uns seine Version einer Pilgerfahrt. Dazu verrät er uns (mithilfe seines Sohnes Petr) nach der Hälfte das Ende des Films. Nehmt das, Spoiler Alert-Freaks!
Natürlich kann man die Unerbittlichkeit des Films auch mit Zynismus verwechseln, aber dazu ist Balabanov letztlich viel zu aufrichtig, und viel zu sehr bei seinen Figuren. Es sind keine Abziehbilder, denen man beim Sterben zuschaut. Der Regisseur ist zwar nicht nett zu ihnen, das heißt aber nicht, dass er sie nicht versteht.
Auffallend ist auch, dass in „Ich will auch“ noch einmal alles aufgeboten wird, was die russische Folklore so hergibt: die Sauna, das exzessive Trinken, fast schon postapokalyptisch anmutende Treppenhäuser, abgelegene nuklear verseuchte Gegenden, Gewalt, Glaube, Aberglaube, und der Winter. Der Film ist ein einziger, großer Abschied, voll beißendem Humor – und beißender Kälte.

ICH WILL AUCH_ME TOO

Im Festivalzentrum verlor ich beim Kickern gegen Sano, der eine Lobrede auf den Neuen Slowenischen Film hielt, und jeden weiteren Gegner in seine Schranken verwies.
Jurymitglied Anna zeigte mir Parallelen zwischen „Ida“ und anderen Filmen Pawlikowskis auf, was mir zu denken gab. Außerdem hatte ich mir in der Zwischenzeit Interviews mit Pawlikowski durchgelesen, und mir ein Q&A auf Youtube angesehen. Vieles im Film, was ich für Kalkül hielt, hatte sich tatsächlich beim Drehen so ergeben. Ein ständiger Prozess mit vielen Wendungen, und kein berechnendes Spiel, auch wenn es manchmal so wirkte. Der Film und ich sind noch nicht fertig miteinander.
Da sah ich in einer Ecke auf einmal den Mann mit dem Schnurrbart. Er sah mich an, und nickte mich heran.
„Was wollen sie schon wieder?“
„Amüsieren sie sich?“
„Was geht Sie das an?“
„Die Festivalleitung berät in diesem Moment darüber, wie mit ihnen zu verfahren ist. Falls es sie interessiert…“
Ich lachte: „Und sie sind der einzige Freund, den ich noch habe, ja?“
„Nennen sie es, wie sie wollen. Ich weiß, dass sie Rodan nicht umgebracht haben. Aber irgendwer ist es gewesen. Irgendwer muss es gewesen sein – wenn sie verstehen.“
„Aber warum ich?“
„Der Twittereintrag.“
„Aber das war ich nicht.“
„Spielt keine Rolle. Nichts spielt mehr eine Rolle.“
„Aber…“
„Vergessen sie’s, Sven! Das ist goEast!“
Er verschwand. Ich hielt ihn für einen Spinner – ging aber mit einem mulmigen Gefühl nachhause.

DURCH UND DURCH von Grzegorz Królikiewicz, 1972

Nicht viel war passiert. Sano konnte den zweiten Krzysztof Zanussi-Film des Symposiums nicht zu Ende gucken, weil er erfahren hatte, dass sein Zelt gestohlen wurde. Außerdem lernte ich einen TV-Redakteur kennen, der kleine Filmkritiken für den Videotext verfasste. So schrieb er zum Beispiel über „The Limits of Control“ von Jim Jarmusch: „Schillerndes Kino-Mantra mit einem Hauch von Zen“.
Weiter im Filmtext: „Na Wylot“ („Durch und Durch“) war mein erster Film des eher obskuren Grzegorz Królikiewicz. Amos Borchert hatte ihn natürlich schon mehrmals gesehen, und ihn dringendst empfohlen. Zu Recht.
Ein Mann und seine Frau versuchen zurechtzukommen, stoßen aber in ihrer Umgebung stets auf Ablehnung und Abscheu, auf Isolation und Gewalt, auf die sie schließlich furchtbar reagieren.
„Na Wylot“ schafft Bilder, die im Kopf bleiben, die eine bedrohliche Stimmung vermitteln, die ganz von Gewalt durchdrungen ist. Auch ohne den Mord, der später im Film passiert, gab mir der Film ein Gefühl, dass Peter Straub in „Koko“ so umschrieb:

„Civilians thought that violence was action, one guy hitting another, crunching bones and spattering blood – ordinary people thought you could see violence. They thought you could avoid it by not looking at it. But violence was not action. Above all violence was a feeling. It was the icy envelope around all the business of blows and knives and guns.“

Die brutalen Geigeneinsätze der Musik von Henryk Kuzniak (von dem ich vorher nur die sorglose Leichtigkeit von „Vabank“ und „Sexmission“ kannte) befeuerten diese eisige Hülle, die den Zuschauer umfing. Auch das Sounddesign sei hier besonders hervorgehoben. Jedes kleinste Geräusch, das Haare kämmen, das Finger-Trommeln auf den Tisch, ist schrill und lärmend. Die beiden Protagonisten, das von der Gesellschaft geschasste Ehepaar, erleben die Welt wie der Mörder aus Poes „Das verräterische Herz“. Und wie in der Kurzgeschichte wird auch hier ein armer, alter Mann (und dessen Frau) das Opfer der krankhaften Sensibilität der Protagonisten. Der Mann erinnerte mich übrigens stark an Michel Houellebecq, der perfekt wäre für die Hauptrolle im Remake.
Die letzten beiden Filme des Symposiums, die Highlights sozusagen, waren Andrzej Zulawskis „Der dritte Teil der Nacht“ und „Diabel“. Letzterer war vor allem eine politische Parabel auf das damalige Polen, was auch die Mächtigen erkannt hatten, und den Film verboten. Ein schwerer Brocken voller Blut und exaltiertem Schauspiel, das man so wohl nur von Zulawski kennt. Leider haben diese Filme nicht Viele gesehen, auch nicht auf dem Symposium.

Geschafft von „Diabel“ ging ich nachhause, als ich auf dem Marktplatz einige dunkle Gestalten in grauen Mänteln erblickte. Einer davon der Mann mit dem Schnurrbart.
„Sie Idiot“, sagte er, „sie haben mehr Schaden angerichtet als sie glauben.“
„Das hoffe ich“, sagte ich, und wusste nicht recht, was ich damit meinte. Da fuhr auf einmal ein Skoda-Shuttlebus vor, und die Beifahrertür sprang auf. Jurymitglied Ciprian David saß am Steuer: „Na los!“
Ich stieg schnell ein, und bevor die grauen Männer irgendwas tun konnten, waren wir schon auf der Straße.
„Was wird hier gespielt?“, fragte ich. „Was hast du mit all dem zu tun?“
„Du hast keine Zukunft hier“, sagte Ciprian. „Ich sag dir, wie es läuft. Du wirst im Park spazieren gehen, vielleicht am ersten sonnigen Frühlingstag. Ein Auto wird vorfahren, die Tür wird aufgehen, und jemand, den du kennst, vielleicht sogar jemand, dem du vertraust, wird aus dem Wagen steigen. Er wird dir anbieten, dich nachhause zu fahren. Und er wird lächeln.“
„So wie du eben?“
„Ja. Nein. Also ja, so ähnlich. Aber später. Der Punkt ist: Es ist vorbei. So oder so.“
„Ja“, sagte ich nachdenklich. „Das Festival ist vorbei. Aber ich könnte über die Sache schreiben. Und alle auffliegen lassen.“
„Das überlebst du nicht.“
„Na ja. Bis jetzt war ich immer für eine Überraschung gut.“

Für David Rayfiel

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, April 22nd, 2014 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Essays, Festivals, Filmbesprechungen, Sven Safarow, Verschiedenes veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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