100 deutsche Lieblingsfilme #77: Der Traum lebt mein Leben zu Ende (2011)
Vergangene Existenz aus der kinematographischen Bewegung neu gedacht, nachempfunden im räumlichen Versuch: Die Kamera schwenkt besonnen wie der Sprachfluss der Poeten, kreiselt den Heimatlosen gleich umher, findet Halt und zerrt sich an einem Grabstein empor. Mit Mut in der Tasche wandert sie verschlungene Pfade nach und zögert doch, sie zu Ende zu gehen. Ganz so, als wäre es mehr denn Landschaft an sich, die kartografiert wird. Gegenstand von „Der Traum lebt mein Leben zu Ende“, einem der wenigen Langfilme der Eifler Autorin und Filmschaffenden Katharina Schubert, ist das Leben der Lyrikerin Rose Ausländer (1901 – 1988) – selten war eine dergestalt vollmundige, Fremddasein einnehmende Floskel zutreffender. Denn was hier verhandelt wird, ist weniger schlichtes Nacherzählen in den Anekdoten Hinterbliebener sowie dem einst verschriftlichten Wort, ein bloßes Absortieren auf das geistige Endprodukt hin, als vielmehr das, was üblicherweise allein als Abwehrgebärde aufgebracht und im Volksmund mit „einmal nur des anderen Schuhe anziehen“ benannt wird.
Auf blickt das Kameraauge, dann wendet es den Blick hinab, transzendiert empor gen Himmelszelt, aber sinkt doch wieder ab bis fast auf den Wasserspiegel, ein letztes Nachjustieren zur linken Hand – die Geschichte ist verdichtet. „Immer zurück zum Pruth“ – jenem Czernowitzer Fluss, der Rose Ausländers Leben seit den frühesten Lebenstagen prägte – so weiß es die Kapiteleinblendung am unteren Leinwandrand; eine solch assoziative Bildfolge ist symptomatisch für diesen formwandlerischen Streifzug durch Spuren und Hinterlassenschaften, der nie den Ursprung der Gedanken aus den Augen verliert. Alles schlenkert stets zurück, ist weitergedacht und rückversichert, ein Orientieren im Leben, das einem nicht gehört. Visualisiert eine Deutung verklungener Schritte unter vielen Möglichkeiten, die ein mündiges Publikum annehmen kann oder nicht.
Dann, plötzlich subversiv, beginnt der Strom einzusickern in die eigene Gegenwart wie Vergangenheit. Bisweilen verhallen Ausländers Verse auch in das weiße Endlos der ihnen unvertrauten Schneifelwüsten hinein. Die Kamera macht zögernd vorm Horizont aus dichtem Wald Halt, in diesen Momenten hört der Film in allen Augenblicken außerhalb des gegenwärtigen auf zu existieren, liest in dem Fluss der Zeit um ihn herum erstarrte Zeilen direkt in unsere Lebenswelt, unser eigenes Herz hinein. Intimität der Weite. Wie mitteilsam die Poesie einer vor nunmehr beinahe 35 Jahren verstorbenen Dichterin anderswohin verpflanzt im Jetzt noch ausfallen kann, darum dreht im Wortsinne sich eine der der Mise-en-scène zugrundeliegenden Rotationen.
Eine weitere ergibt sich als Kontrast zum Verweilen, welchem – auch vor dem Hintergrund Ausländers von beständiger Flucht geprägter Biografie – eine ungewisse, wabernde Bedrohlichkeit innewohnt. Verharrend aufgesetzte Kamerapositionen erinnern in ihrer den Raum von seinen Begrenzungen her auslesenden Strenge gelegentlich an Pasolinis Spätwerk, im Kapitel zur Verfolgung der jüdischen Gemeinde Czernowitz‘ mehr noch allerdings an jene spezifische, niedrigwinklige Treppenhausästhetik, mit Hilfe derer Zbyněk Brynych seinen tschechoslowakischen Holocaustdramen und besonders „A páty jezdec je Strach“ (1965) wie ein noch unbemerkter Mückenstich unablässig zwickende Profanität des Grauens verlieh. Es ist ein Wechselspiel – auf den Ausgangspunkt humanarchitektonischer Enge folgt zumeist endlose Weite, eine Fremde, in die sich das in Furcht, Ungewissheit oder dem Lebensabend im Altenheim verfasste Wort allein aufgemacht hat.
Weit gefasste Baumreihen entlang, Flüsse hinunter – hier wie da sind diese gleich, der Pruth am Elternhaus wird zur Düssel beim Sterbeort; immerzu spült das Leben ihre Arme hinunter, nie hinauf. Wie sollte es anders sein – ein Film mit so warm gegen die kalte Welt einmummelndem Titel ist von zarter Vergänglichkeit erfüllt. Ozuesk nennt man eine besondere Form des japanischen mono no aware, am Festhalten, am Konservieren per se liegt ihr eher weniger, melancholisch, doch mit dem Kopf unverrückbar im Eingetretenen stehend Revue passieren lassen, das liegt ihr näher. In Zügen ist es vielleicht auch diese Distinktion, die Katharina Schuberts Film von denen ihres Mannes unterscheidet – er hat etwas von genuin lyrischen Verstrickungen an sich, in dem sich trotz personeller Übereinstimmung jene ideellen Ergänzungen zueinander spiegeln, die ihre kreative Symbiose seit vielen Jahrzehnten auszeichnet.
Interviews kommt seit jeher großer Raum in beider Werken zu, hier jedoch sind sie das Addendum zu einer Ergründung, dort das Eigentliche, der zu erhaltende Kern, bereits durch die filmischen Mittel ergründet, für den kürzesten Teil der Ewigkeit in sie eingelassen. Die Fragetechnik der sich drehenden Stativachse bleibt gleich, in den Antworten liegt eine Varianz. Typisch für das digitale Spätwerk der Schuberts liegt alle Kraft in einem ausgeklügelten Rädersystem. „Der Traum lebt mein Leben zu Ende“ setzt Strophen in Bewegung, das Werk und Leben Rose Ausländers in einen Strom so unentwegt, so sprunghaft wie die wechselhaften und doch nie heimelig gewordenen Lebensmittelpunkte ihrer Reise. Interviewsegmente, das Voiceover, sie erden die ungezügelten Kontinentsprünge in Leben und Nacherzählung gleichermaßen, sind beredter Ruhepol, der fernes Empfinden, die längst verwelkte Existenz einer anderen unversehens tangibel, nahezu im eruptiven Widerspruch zur Stille der Methoden, im Licht des Saales erscheinen lässt.
Die Kunst steckt im Kino gemeinhin in der Fuge und so gebührt der größte Zauber einer Erscheinung, die ganz knapp nur ihr Haupt reckt, um sogleich erneut zu verdampfen. Als der Czernowitzer Professor Peter Rychlo im Schatten eines Hinterhofes von seinen Forschungen berichtet, lässt eine im direkten Erleben marginale Verschiebung der Wetter- und damit Lichtverhältnisse die aufgefangenen Kontraste der 2010er Kamerasensorik für einen flüchtigen, alles Vorangegangene subsumierenden Moment aschfahl werden. Wehmut, das Einbrechen von Depression in ein Leben, Vergangenheit des Landstriches und Gegenwart der Ukraine – von naheliegend bis völlig versponnen kann bei Bedarf alles in diesen Sekunden technischer Imperfektion stecken. Magie des Digitalen.
Der Traum lebt mein Leben zu Ende – Deutschland 2011 – 90 Minuten – Regie: Katharina Schubert – Produktion/Redaktion: Katharina Schubert, Dietrich Schubert – Kamera: Dietrich Schubert, Wilfried Kaute – Schnitt: Dietrich Schubert, Stefan Schuster – Musik: Wolfgang Hamm – Mitwirkende: Tilde Schottenfeld, Helmut Braun, Prof. Dr. Peter Rychlo; sowie durch Archivmaterial Rose Ausländer – Voiceover: Johanna Gastdorf, Philipp Schepmann
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