100 Deutsche Lieblingsfilme #32: Heinrich (1977)
Manchmal ist es schwierig über einen Film zu schreiben. Zumindest, wenn man ehrlich sein will. Während dem Sehen hat man viele Ideen, oder auch viele Stimmungen und Gefühle. Bei den Ideen ist es oft schwierig sie zu rekapitulieren, bei den Gefühlen schwierig sie zu beschreiben, in Worte zu fassen. Heinrich ist so ein Film, ein Film der seine Ideen in Gefühlen und Stimmungen ausdrückt und sie selten verbalisiert (was auch immer das im filmischen Kontext heißen mag). Das bedeutet jedoch nicht, dass er kein intellektuelles Kino wäre, voll von Meinungen über die Welt, die es gilt, an den Mann (oder die Frau) zu bringen. Linkes, agitatorisches Kino eben, das immer auch didaktisch ist (man denke als Paradebeispiel mal wieder an die grundsätzliche Didaktik eines Jean-Luc Godard). Aber Heinrich ist eben auch leidenschaftlich, obsessiv und sinnlich im besten Sinne dieses aufklärerischen Kinos, dieses Kinos des „Neuen deutschen Films“ der 70er („jung“ im eigentlichen Wortlaut ist an den zumindest aus heutiger Sicht eher altherrenhaften und angestaubten pädagogischen Ansätzen dieser Filme wenig – auch wenn sie von Frauen gedreht wurden), indem er sich am Theater, an einer Tradition der Bühne, an ihren Präsentations- und Diktionsformen orientiert, ohne das genuin filmische Moment, die verfremdenden, naturalistischen oder hyperrealistischen Eigenschaften von Bild und Ton, von Klangkulisse, Licht, Farben, der Großaufnahme oder Totale, dem Schnitt und den sonstigen kinematographischen Besonderheiten der Kombinationsmöglichkeiten künstlerischer Ausdrucksformen auf und mit dem Aufnahmematerial, zu vernachlässigen. Ein wenig wirkt Heinrich dadurch für mich wie eine Ehe zwischen den Filmen Werner Herzogs und denen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Die kalkulierte Naivität beider, beim einen des Ursprungs, bei den beiden anderen des Ziels, sowie der Versuch Geschichte als aus der Gegenwart (re)konstruierte begreifbar zu machen. Das Staunen von Herzog und das Verstehen von Straub und Huillet, beides da um Räume zu öffnen, und beide vor allem an den Möglichkeiten filmischer Darstellung ihrer Thematiken interessiert. Diese spürbare Sinnlichkeit, die eben immer auch als Resultat tief empfundener persönlicher Leidenschaften aufgefasst werden kann, scheint für mich beizeiten bei vorhandenem Engagement beinahe zwangsläufig in einen Film hineinzufließen, und dadurch fast etwas Magisches in sich zu tragen. Wenn man möchte, könnte man vielleicht von einem persönlichen auratischen Abdruck auf dem Filmbild sprechen, der auch bei Helma Sanders-Brahms vorhanden ist.
Es ist mein erster Film dieser Regisseurin, daher mag meine Einschätzung etwas schief sein, und sicherlich voreilig. Aber was mir am besten gefallen hat, und auf was ich mich in den anderen Filmen von Sanders-Brahms freue, da ich hoffe es dort wenigstens teilweise wiederzufinden, ist die Unbeholfenheit, das Ungelenke und Unfertige dieses scheinbar so perfekt inszenierten Films. Wenig passt richtig im konventionellen Sinne, denn selbst die imaginären Richtlinien eines seriösen, ernsthaften Autorenfilms der „weiß, was er will“, scheinen sich in jedem Moment aufzulösen. Die Unfähigkeit, die Zerrissenheit, die Melancholie um die es im Film geht, und die durch die spezifische Darstellung der Figur von Kleist in einer unglaublichen Widersprüchlichkeit des Willens wunderbar zum Ausdruck kommt, überträgt der Film auch vollkommen auf die formale Ebene, der Schöpfung und Organisation von Heinrich. Viel könnte dazu geschrieben werden. Etwa über die Gleichzeitigkeit von Ernst und Parodie, von Pathos und Unvermögen, von Sprache und Ausdruck, welche nicht zusammenpassen und doch herrlich miteinander kommunizieren, im schizophrenen Universums dieses Films. Doch, wie gesagt, fällt es mir schwer, etwas koheräntes über Heinrich auszuformulieren, etwas das meine vielschichtigen Empfindungen während dem Sehen des Films adäquat in konventionelle Wortkreationen übertragen könnte. Eigentlich müsste mir wohl ein Gedicht einfallen. Aber es reicht vielleicht auch, um doch noch ein wenig Klarheit in mein Verständnis des Films hineinzubringen, wenn ich als abschließende Beobachtung hinzufüge, dass Heinrich eine geistige Wanderung durch Raum und Zeit darstellt, indem er assoziativ mit der möglichen Fülle und Vielfalt beider umgeht und dadurch dem Zuschauer ermöglicht das vermeintliche Paradox eines Überschwangs der Konzentration in der Kunst in Bezug zum gleichen Phänomen im Leben zu setzen: Wenn man lange genug in die Helligkeit blickt, erscheinen schillernde Farben und Formen vor dem Auge, die nicht weniger real als die Dunkelheit sind.
Heinrich – BRD 1977 – 133/125 Minuten – Regie und Drehbuch (nach Briefen und Selbstzeugnissen Heinrich von Kleists): Helma Sanders-Brahms – Drehbuch-Mitarbeit: Heinrich Giskes, Thomas Mauch, Volker Canaris – Produktion: Regina Ziegler – Kamera: Thomas Mauch – Schnitt: Sigrun Jäger – Musik: Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven – Darsteller: Heinrich Giskes, Grischa Huber, Hannelore Hoger, Lina Carstens, Sigfrit Steiner, Heinz Hoenig, Elisabeth Stepanek, Henning Schlüter, Hildegard Wensch, Stefan Ostertag, Sabine Ihmes
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