Seelenwucherungen am Gewebe – Skepp till Indialand (1947)
- I wish I was stronger; I wish I was thinner
I wish I didn’t have this nose
These ears that stick out remind me of my father
And I don’t want to be reminded at all
The final disappointment
(Lou Reed – Harry’s Circumcision)
Man kennt es aus den besten Familien – da läuft der gemachte Kapitän nach sieben Jahren erneut in den Heimathafen ein und die wichtigste Veränderung scheint bloß eine rein optische zu sein. Es habe etwas mit der Seele zu schaffen, dass der einstige Buckel verschwunden sei, mutmaßt eine im Auftreten kichrig-pubertäre, in allem, was sie sagt, jedoch stets altersweise junge Bekannte Johannes Blom (Birger Malmsten) gegenüber. Wie ihr geht es dem überwiegenden Teile aller Figuren in Ingmar Bergmans drittem Film „Skepp till Indialand“ – zwischen Außenwirkung und Innenleben klafft eine deftige Diskrepanz. Johannes‘ Vater (Holger Löwenadler), so werden wir in der bald einsetzenden Rückblende, die den größten Teil der Laufzeit einnimmt, bemerken, wirkt mit seinen sanft geschwungenen Löckchen wie eine graue Eminenz, dabei ist er selbst in seinem offenkundigen Leid nur ein ausgesucht schäbiger Hund von einem Menschen, seine Frau (Anna Lindahl) wie das sanfte Muttchen, das alles zu erdulden vermag, doch dann bricht die Entbehrung plötzlich im Schwall aus ihr heraus.
Wo die Oberflächen so trügerisch sind, da muss es doch etwas geben, das sie entzaubert? Ja, das gibt es. Quält man die Menschen nur ausdauernd genug, setzt sich diese Behandlung als Seelenkarzinom an ihren Körpern fest. Physische Deformationen, die sich im Umweg über die Worte eingebrannt haben. Als Johannes noch in der Gegenwart traurig am Strand eindämmert und im längst vergangen Gewünschten wiedererwacht, ruft sich ihm zuallererst der sanfte Spott seiner Mitmatrosen auf Vaters Schrottkutter in Erinnerung. Sie philosophieren über seinen Buckel und er rennt sogleich zum Spiegel, um diesen zu betrachten. Ein Teufelskreislauf übersetzt in ein ausgeklügeltes filmisches Bezugssystem. Wann immer man der Deformation verbal den Rücken stärkt, bereitet sie umgehend visuell Pein – wie unter Zwang lässt Johannes mit übertragenem Dolche im Schwachpunkt jedes Aufbegehren fallen wie die Waffen, die er mehrfach bereits in erhobenen Händen hält. Runterfallen, Untertauchen, Absinken – nachdem er die Kollegen belauschte, verschwand sein Kopf schnurstracks abgleitend erneut in der Niedergangsluke, gleich einer frühen Umkehr des womöglich berühmtesten Einzelbildes aus Coppolas „Apocalypse Now“ (1979). Dieser erste Eindruck bleibt symptomatisch für die Figur.
Auch wenn nicht wenige Quellen dieses selbst aufoktroyierte Narrativ einfach übernehmen – Johannes ist KEIN „Krüppel“, sondern ein überaus tüchtiger junger Mann, der auch körperlich spielend zu allem in der Lage wäre, was er sich vornimmt und doch wieder und wieder über die von mitleidig bis genuin niederträchtig reichenden Wahrnehmungen der Restwelt ins Stolpern gerät. Viel eher ist „Skepp till Indialand“ ein Film, der sich fast verfrüht mit Ableismus und dessen Folgen beschäftigt. Im Gegensatz zu späteren Variationen vergleichbarer Themen wie Ingrid Thulins Effloreszenz in „Nattvardsgästerna“ (1961) oder Liv Ullmanns offenbar (aber freilich nicht visualisiert) im fast sprichwörtlichen Sinne zugewachsener Vagina in „Ansikte mot ansikte“ (1976) handelt es sich bei Johannes‘ Buckel nicht um eine Veränderung des Körpers, die gemeinhin als klassisch psychosomatisch gelesen wird und dementsprechend auch weniger um ein ausführlich erkundetes expositorisches Element denn eine rein expressive Metapher vergleichbar der nachhaltig separierenden, zumindest oberflächlich jeden Bezug auf menschlich-mentale Problemstellungen hin zum Tierischen oder Außerweltlichen verwischenden Mutationen aus den berühmten Horrorfilmen des Produzenten Val Lewton (bspw. „Cat People“, „I Walked with a Zombie“, „The Leopard Man“ [Jacques Tourneur, 1942 – 1943]) oder der Universal (bspw. „The Invisible Man“ [James Whale, 1933], „The Wolf Man“ [George Waggner, 1941]). Sie liegt nicht ursprünglich in der eigenen Psyche verwurzelt, sondern in der der Mitmenschen, ist in wie außerhalb des narrativen Universums etwas dezidiert Externes und doch so nah, so vertraut Gewordenes. In ihrem situativen Anwachsen entzieht sie sich deutlich den Anklängen des poetischen Realismus, die Bergmans Misé en Scene in weiten Teilen dominieren. Es ist eine eigenwillige Mixtur, die die Epoche seiner Stilsuche fesselnd in die Assoziation ganz bestimmter Kunstrichtungen mit ganz bestimmten Etappen der Existenz ummünzt. Göran Strindbergs Bildgestaltung bewegt sich eigentümlich, mal hier, mal dorthin ausgleitend fast exakt zwischen den französischen Vorbildern und dem etwa zeitgleich zu vollster Blüte gelangenden Neorealismus italienischer Prägung. Solange sie den Hafen, seine Bewohner, die Arbeit, das Alltägliche einfängt; je weniger groß der Figurenkreis jedoch gezogen wird, desto mehr treibt es Bergman in diesen dann vornehmlich dunklen Seelenmomenten zu bedrohlichstem Expressionismus.
Blitze, die sich in das Bild einbrennen, wie von flammender Feder in den Hintergrund des heimkehrenden Schiffes gezogen, eröffnen als graduell in unbehagliche Schieflage verzerrtes tableux vivant den Reigen und erklären vorab, wie der sich anschließende Film operiert. Vieles an körperlichem Leid ist präzise aufgepinselter Ver- wie Entfremdungseffekt im Sittengemälde, Spitze, die sich einfach so auch vor uns, in der filmischen Perspektive manifestiert, wenn sie den Figuren selbst am wahrnehmbarsten erscheint. Zurück zum einschneidendsten Moment in Johannes‘ Selbstbild, der Vermessung des unzulänglich gewähnten Körpers im Spiegel. Ein ausgiebiger Vorgang – erst die rechte Schulter. „Bist doch ein hübscher Bub!“, möchte man ihm noch aufmunternd zuraunen. Doch ganz allmählich wandert seine Aufmerksamkeit davon, er betrachtet nun die Linke und wendet uns, die wir in der Bildkradrierung exakt hinter ihm stehen, so ganz natürlich die Rechte zu, deren Buckel nun ungleich prominenter erscheint. Später wird er während eines nächtlichen Zusammenbruches Sally (Gertrud Fridh), die junge Geliebte des Altvorderen, mit wenig behutsamer Fragetechnik dazu auffordern, ihm zu bestätigen, dass er deformiert sei. Ausbreitungen, ein geistiger Virus – die Traurigkeit, die Johannes den ihren, längst auch von ihm begehrten Augen zuschreibt, man kann ihr über den Lauf des Filmes beim Verschwinden und Wiedererscheinen zusehen. Wie auf Zuruf. Du hast da was.
„Skepp till Indialand“ ist im Grunde eine existentielle Liebesgeschichte über zwei Menschen, die miteinander, die aneinander wachsen, durch wie an ihren manifesten Verhärtungen. Teilweise komplett auf sich allein gestellt. Nicht bloß die Bildgestaltung ist dem Kommen und Gehen der Personenkonstellationen untergeordnet, bei akkuter Figurenarmut schränkt sich auch unser Ausblick zuverlässig am stärksten ein, statt getreu dramaturgischer Konventionen den Blick hinter die auf die Oberfläche gestülpten Äußerlichkeiten freizugeben. Sind sie nicht mehr da, möchte man beinahe glauben, was die anderen Menschen erzählen. Und ausgerechnet in diesen Momenten des Zweifels wechselt Bergman den Schauplatz, einmal gar die Perspektive zum Vater, just als dieser realisiert, dass er die seinige – in Form des Augenlichtes – für immer einbüßen wird. Ein erster Triumph als Behelfskapitän, mehr jedoch als tatkräftiges Individuum, des Sohnemannes wird so galant einer unverschämten Ellipse überantwortet. Ambivalente Perfiderie, selbst für Bergmans Verhältnisse herrscht hier von bemerkenswert kalten Luftzügen durchwehte Düsternis – eine Unnachgiebigkeit des Regisseurs, ein Drängen zum Besseren, nicht jedoch frömmelnder Besserung, das so für ihn nur in den engeren Traditionen des Melodrams gab. Der junge Filmemacher Ingmar Bergman ist ein dezidiert anderer Meister als sein arriviertes Pendant, in dieser Konsequenz findet sich eine derartige Häutung in den wenigsten Karrieren – kein Wunder, dass die ordnungsliebende wie in der Tendenz desinteressierte Zerteilung und Eingliederung zwischen den Etappen minder interessante Fingerübung, goldene Reife und auserzähltes Alterswerk der Kanonisierung ihn härter traf, umfassender auf das Anerkannte verknappte als noch viele weitere Filmschaffende. (Man bemühe nur den Vergleich zu bspw. Luis Buñuel oder Luchino Visconti, deren ungleich uniformere Handschrift – über die zu debattieren nicht Sinn und Zweck dieses Schlenkers ist – zu in all diesen tradierten Etappen sakrosankten Einzelwerken führte.)
Im Gegensatz zum Erkunder vornehmlich auch der eigenen Seele wirft der Melodramatiker Bergman fortwährend ungewöhnliche Fragen auf, anstatt ihrer Beantwortung entgegenzustreben. Näher an das vage Unwohlsein David Cronenbergschen Körperhorrors kam er nie – eine These so steil wie die stilistische Diskrepanz zwischen diesem und späteren Verstößen in ähnlicher Richtung wie den surreal-distanziert in psychologischen Problemen watenden „Persona“ (1966) oder „Vargtimmen“ (1968). „Freaks“ (Tod Browning, 1932) unter den Randständigen der gar nicht so freien Wildbahn. Ein besonders eindringlicher Moment gemahnt an die eigentümliche Fetischisierung unkonkret-grauenerregender Bewüchse im Schreiben H.P. Lovecrafts und ist doch reine Erzählung: Die an Johannes weitergetragene, ein gänzlich von Muscheln und Algen bewachsenes Schiff betreffende Horrorvision eines Matrosen. Nie erfahren wir etwas um die Ursache hinter dem, eingelassen in beiläufige nächtliche Konversation und bildliche Tuckerruhe wie aus „Unter den Brücken“ (Helmut Käutner, 1946), völlig hysterisch wirkenden Grade des Schauderns, außer, dass ihn diese optischen Makel schwerwiegend aus jeder Contenance zu werfen scheinen. Man könne ein Schiff doch nicht so lange ruhen lassen. Stillstand begünstigt Seelengewächse. Für den Alten, dessen Bitterkeit ihn ganz anlasslos, einer reinen Verkettung magischer Flüche ähnelnd, erst in Blindheit, dann in Paralyse, nie aber die Gnade des Todes fallen lässt. Für den in der Emanzipation von Elternhaus wie verinnerlichten und doch nur angedichteten Einschränkungen festhängenden Jungen. Ganz am Ende für die lange Zeit nur als patent sichtbare Sally. Apathie, notorische Antriebslosigkeit, dominierende Wesenszüge, die sie stets für sich proklamiert, aber zwischen Bergen an Männeregopolitur ganz folgerichtig perspektivisch unterschlagen bleiben müssen, entpuppen sich als Symptone einer ausgewachsenen Depression, in welche Sally unmittelbar nach Johannes‘ den Bogen der Vergangenheit schließender Abfahrt fällt und deren Wüten sie sieben unbeleuchtete Jahre tapfer durchhält. Erzählen, auslassen, einordnen oder auch nicht. Physische Feigenblätter, Verklausulierungen für das, was man nie aussprechen darf – möglicherweise ist auch dies, worauf die Schreckensbilder sich verformender Leiber hinauslaufen. Feingliedrige Verwebungen zwischen abgespalten wirkenden Ist-Zuständen der Seele und des Körpers. Und doch spricht Bergman ungewohnt deutlich, weniger von sich, mehr von den Anderen her gedacht. Diese Empathie, dieses Ringen um etwas, das man bei einem selbst seltenst nur bezwingen kann, erlaubt ihm die dezente Übergriffigkeit des Happy Ends, in dem doch mehr Wissen von den Grundkonstanten menschlicher Existenz steckt als in vielen ausgiebigen Sinnsuchen späterer Jahre.
Ein verstörender Film ist „Skepp till Indialand“, in dem die Menschen richtiggehend körperlich handgreiflich werden müssen, um ihre, ganz recht, Dellen auszubeulen. Unmögliche Hoffnungen sind schlechte Ratgeber, man muss sie schon umzusetzen wissen. Was hat es mit dem Schiff nach Indien des Titels auf sich, werden sie sich da unter Umständen fragen. Das gibt es nicht. Ob es das heimlichen Sehnen des alten oder die Lehrjahre des jungen Blom versinnbildlicht – es bleibt reine Ellipse, Leerstelle, in die man eintaucht und aus der man wieder ausgespuckt wird. Eine Wucherung der Fantasie.
Skepp till Indialand – Schweden 1947 – 95 Minuten – Regie: Ingmar Bergman – Produktion: Lorens Marmstedt – Drehbuch: Ingmar Bergman, nach dem gleichnamigen Theaterstück von Martin Söderhjelm – Kamera: Göran Strindberg – Schnitt: Tage Holmberg – Musik: Erland von Koch – Darstellende: Birger Malmsten, Gertrud Fridh, Holger Löwenadler, Anna Lindahl, Lasse Krantz u.v.a.
[…] – André Malberg hat sich auf Eskalierende Träume einen frühen Ingmar-Bergmann-Film vorgenommen. „Skepp till Indialand“ von 1947. […]