Éric Rohmer – Zelluloid und Marmor



„Kritik ist eine Sache der Jugend, sie verlangt Ungestüm und freie Zeit.“

Das schrieb Éric Rohmer, einer der wortgewandtesten Vertreter der Nouvelle Vague, im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Zelluloid und Marmor, die erst 2010 in Frankreich als Buch erschienen ist. Es war eine Zeit, in der er sich als Literat gescheitert sah und als Filmemacher noch in einem langen Initiationsprozess steckte. Doch das Kino ist da schon längst zu seiner Bestimmung geworden.

Wenn man dieses über sechzig Jahre alte Manifest noch einmal liest, glaubt man ihm das gern, das mit der Jugend und dem Ungestüm. Denn Rohmer präsentiert sich als Theoretiker geradezu als Bilderstürmer, der mit jugendlichem Gusto (und Leichtsinn) die großen schweren Kunstgattungen anpackt: Malerei, Musik, Literatur, Architektur. Sie alle hätten ihren Zenit unlängst überschritten. Und der Film sei die vitalste der Künste, weil er sich in seiner klassischen Epoche befinde. Klingt leicht widersprüchlich, ist aber hochinteressant und kann letztlich als Kampfansage der Nouvelle Vague gesehen werden, die sich wenige Jahre später endgültig im Kino niederschlagen würde.

Rohmer zeigt sich in Zelluloid und Marmor gleichzeitig als Revolutionär und als Klassizist. Denn nicht nur nimmt er den Film als ernstzunehmende Kunstform wahr, sondern stellt ihn gleichberechtigt neben die anderen Künste, was damals alles andere als selbstverständlich war. Und dennoch stellt er den Film gerade deshalb über alles, weil er ihn der Klassik zurechnet. Der Film ist da, wo die Musik sich unter Mozart befand, meint Rohmer, und genau das ist sein Vorteil. In dieser Hinsicht ist Rohmer alles andere als modern. Surrealismus und Experimentalfilm sind für ihn beispielsweise Verirrungen, die er nicht teilt. Der Film bilde die Natur ab, das genau sei seine Stärke. Da spricht natürlich genauso Rohmers persönlicher Geschmack aus ihm wie sein analytischer Geist. Wer sich bei der Lektüre auf letzteren verlässt, wird mit vielen klugen Beobachtungen belohnt. Am Ende des fünfteiligen Essays schreibt er nämlich:

„Das Alter der Filmkunst naht vielleicht schneller, als wir annehmen. Das Leben selbst, die schiere Natur ist ihre Grundlage und die Filmkunst ist dadurch viel mehr Spiegelbild ihrer Epoche als die anderen Künste. Ich befürchte nun, das kommende technische Zeitalter könnte ihr ärmeres Material bieten als das, in dem sie groß geworden ist. Sie hat uns die Schönheit von Maschinen und Instrumenten gezeigt, treue Hilfsmittel, die den kleinsten Bewegungen des Menschen gehorchen, und ihm einige Arbeit abnehmen. Was für ein beunruhigendes und trübes Schauspiel wird aber ein vollends selbstbestimmter Apparat bieten? In einer ganz hergestellten Welt ist der Abstand zwischen der äußeren Erscheinung und dem inneren Daseinsgrund so groß, dass ich nicht sehe, wie hier die Kunst noch ein Wort mitreden kann. Wie wird sich die Leinwand, die zur Darstellung geheimer Geistesverwandtschaften und äußerer Ähnlichkeiten bestens geeignet ist, mit all den Robotern anfreunden, die man uns voraussagt?“

Es ist wichtig, dieses Zitat in seiner Breite auf sich wirken zu lassen. Denn Rohmer sagt hier nicht nur die Digitalisierung des Films voraus, sondern auch die Probleme, die sich daraus automatisch ableiten. Das „ärmere Material“ ist Realität geworden. Die Pragmatik des Roboters hat obsiegt. Zelluloid ist nicht Marmor, ist empfindlich, ist haptisch, aber kompliziert zu handhaben. Und doch, hier liegt die Ironie, die Rohmer gefallen hätte, ist Zelluloid mehr Marmor als das Digitalisat, durch das man das Filmmaterial mittlerweile ausgetauscht hat. Denn bei ordnungsgemäßer Lagerung ist es haltbarer, als es die flüchtigen Daten sind (von den ästhetischen Vorteilen schweigen wir lieber ganz).

Dass Zelluloid und Marmor erstmals auf Deutsch erschienen ist, ist zum einen der Verdienst des Alexander Verlags und zum anderen des Übersetzers und REVOLVER-Mitherausgebers Marcus Seibert, der uns bereits Rohmers einzigen Roman Elisabeth auf Deutsch geschenkt hat. Er macht Rohmers Duktus lebendig und macht das Lesen zu einem dahintreibenden, musikalischen Fluss.

Neben dem eigentlichen Essay, der seinerzeit in den Cahiers du cinéma erschienen ist, befindet sich ein spannendes Gespräch mit den Herausgebern Noel Herpe und Philippe Fauvel in dem Band, das sie im Jahre 2009 mit dem Filmregisseur geführt haben. Es ist eine wunderbare Ergänzung und in vielerlei Hinsicht eine notwendige Erläuterung von Rohmers Thesen, die aus einer Zeit stammen, in der der filmische Diskurs eine Dringlichkeit hatte, die heute nur als schwaches, domestiziertes Echo zu vernehmen ist.

Rohmer, Éric
Zelluloid und Marmor
Architektur, Bildende Kunst, Literatur, Musik und Film
Le celluloïd et le marbre. Aus dem Französischen von Marcus Seibert
Alexander Verlag Berlin







Safarow schreibt

Dieser Beitrag wurde am Montag, Februar 19th, 2018 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Filmbücher, Filmschaffende, Filmtheorie, Hinweise, Sven Safarow, Verschiedenes, Zitate veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Kommentar hinzufügen