Die Bewegung ist der Motor der Träume – Mondo cannibale (1980)
- I Have a Dream, a fantasy
To help me through, reality
And my destination, makes it worth the while
Pushin‘ through the darkness, still another mile
(ABBA – I Have a Dream)
Am Anfang stand die Spieluhr, vorbeitänzelnde Figurinen im Vordergrund des unteren Kadrierungsrandes, Bewegung in der Unbewegtheit einer noch sicher gewähnten Kinderstube – ein geteilter Wachtraum, als Reflexion im Deckenspiegel gleich mehrfach enthoben und doch Teil des Figurenblickes. Allein der Anblick der gebannten Kinderaugen im Hintergrund der statischen Einstellung lässt ihn auch vor den unseren ablaufen, ohne ihn visuell je zu konkretisieren. In einem derart assoziativen Gefüge wie Jesús Francos reichlich geschmähten Versuch eines Beitrages zur zu Anbeginn der 80er Jahre angesagten Kannibalenwelle des italienischen Kinos speist sich alles weitere bereits feingliedrig bis in die letzte Nervenbahn aus der Eröffnungssequenz. Und doch, schon Minuten später wird sie brutalstmöglich in scheinbaren Widerspruch aufgelöst: Kannibalen überfallen das Boot, weiden die Mutter aus, verstümmeln den Vater und treiben das Kind vor Verzweiflung in die Fluten, deren Schicksalspfade es doch nur zum Stamm tragen. Als dieser so seiner zukünftigen „weißen Göttin“ ansichtig wird, ruht sie wellenumspült in ohnmächtiger Erstarrung. Das Ende der Ausgangslage – in Blickrichtung, Perspektive wie Antrieb eine Umkehr seines Beginns. Träume sind so verschieden wie die Menschen dieser Welt – damit ist der genreimmanent ausgestellte Exotismus für Franco achselzuckend abgefrühstückt, bevor er begann.
Zwischen den beiden Extremen dieser spartanischen Exposition wird er auch weiterhin von überweltlichen Dingen berichten, von Träumen und davon, wie sie allzu häufig enden: Umstandslos verdaut und heruntergeschluckt. Fressereien in Zeitlupe oder Schwarz-Weiß, einzelne Körperteile von nah bis fern akzentuiert, richtiggehend sortiert, Innereien auf händischer Wanderung, schmerzerfüllte Gesichter, im Kaleidoskop darüber zerdehnte Schreie, ein fortwährendes Klackern unkonkreten Ursprungs auf der Tonspur, Stöhnereien, lautes, doch unauslesbares Gemurmel, dann wieder stopfende Hände, schlingende Münder. Verfremdet, ausexerziert – in ihrer avantgardistischen Zersprenkelung in einzelne Impressionen sind Francos Fressszenen üppigen Fleischlappen zum Trotze weder derart markerschütternd explizit wie die eines „Cannibal Holocaust“ (Ruggero Deodato, 1980) noch von der saftigen Plumpheit der bereits entintellektualisiert anrückenden Nachhut um „Mangiati vivi“ (Umberto Lenzi, 1980) oder „Cannibal Ferox“ (Umberto Lenzi, 1981). Sie sind vielmehr effektiv, weil ihnen ein tiefergehendes Verständnis innewohnt, ein Bewusstsein dafür, dass in diesen ausgedehnten Momenten etwas für alle Zeit verloren geht. Im strikten Kontrast zum raschen Tod, den Pfeile später den bloßen Expeditionsanhängseln eines dem verlorenen Kinde nachspürenden Trupps einbringen werden, sind sie darüber hinaus jenen Charakteren vorbehalten, die wir tiefergehend kennenlernen dürfen, deren Sehnsüchte oder mühsam wiedererweckte Träume zumindest in Teilen vor uns ausgebreitet werden.
Trauma als Absenz der Träume, davon handelt auch ganz simpel narrativ bereits ein umfangreicher Einschub, der den vielfach ge- wie zerschundenen Jeremy Taylor (Al Cliver) erst einmal zwecks Heilung in ein urbanes Klinikum verfrachtet. Ärztin Ana (Lina Romay) gibt sich dort größte Mühe, ihn verbal aufzurichten, während sich vor seinem Antlitze bestenfalls noch immobile Treppengeländer abspielen. Luxuriös umrandet finden sich beide eines Tages, im Rahmen eines Spazierganges, draußen im kalten Beton vor dem Innern eines Schaufensters wieder – gleich schmucklosen Atrozitätenzurschaustellungen zwischen tropischen Palmen und einem nur verhalten von winzigen Fischen durchwommenen Aquarium. Im weiteren Verlaufe dieses Seelenbummels erwacht nach und nach durch Tand extern eingespeistes Begehren neu in Clivers Brust, bis man sich abermals vor Verlockungen hinterm Glase einfindet. Dieses Mal nicht frontal, sondern links im Bilde, mit kompositorischer Trennwand in der Mitte und Objekten der Begierde rechterhand. Verkomplizierend erlaubt die Bildgestaltung den Blick durch ein weitere Glasfassade geradeaus beziehungsweise zur Linken der Figuren. Für unsere Blickrichtung unmittelbar evident pendelt dort ein gleichfalls faszinierter Kopf zwischen Tannenbaum und Goldschmuck. Zoom in, ein Bemerken – es handelt sich um ein kleines Mädchen hinterm zweifach verglasten Sicherheitsabstand, welches Jeremy sogleich ansprechen will. Dieser Moment markiert das endgültige Erwachen seiner am Sehnen hängenden Menschlichkeit, in einem Rutsch kommt alles hoch – Name, Erinnerung, Tochter.
Was Francos Mise en Scène, sein architektonischer Bildaufbau, sein nachbohrender Zoom, die Erzählökonomie des Behändten geschickt verdichtet, ist ein langwieriger Prozess. Letztendlich eine verschleierte Ellipse, die sich erst rückblickend aufklärt. Seine Tochter Lana ist längst zu Sabrina Siani herangereift, als wir sie in montagetechnisch herangerückter Ausschau wieder erspähen; Cliver immer noch der Gleiche mit notdürftigem Bartgestrüpp und festgeklebt im Einstigen. Gerade einmal etwa eine halbe Stunde von Verlust bis zum in den psychologischen Fokus gerückten Gewinn; obwohl mit einer jenseits alles Kannibalesken angesiedelten Hintergrundgeschichte aufgelockert, ist „Mondo cannibale“ ein selbst für Francos Verhältnisse bemerkenswert präzis arbeitender Film. Das Forsche des provokativ Politischen vergleichbarer Filme nimmt weniger Zeit in Anspruch, während Franco hingegen die ganze Welt des Intimen in 90 Minuten verhandeln kann. Wer den Menschen so nachhaltig durchdenkt wie er, der kann ihn zu Chiffren verkürzen und doch ausführlicher sein als viele mehr dem gesprochenen Wort geneigte Filmschaffende. Entsprechend einsilbig nimmt sich auch die eventuelle Rückkehr in die Tropen aus: Einsam herumlungernde Tiere eröffnen zu einer Reihe Impressionen präpariert die Tristesse dessen, was eher wie eine auf die Inszenierung sowie die Menschen in ihr übergreifende Tropenkrankheit denn genuine Wildexotik wirkt.
Da gerät man unweigerlich an die Wünsche und sogar der als blasierter Fatzke eingeführte Finanzier des Rettungsabenteuers (Olivier Mathot) taucht plötzlich im Gegenschnitt vor der Türe einer Lotterspelunke auf, just als Cliver sich an deren Theke über unbrauchbare Feiglinge beklagt, und lächelt ein, ob er denn auch gemeint sei. Am Kern seines Wesens ist Francos Film ein zutiefst warmherziger Film, der humanistische Gegenentwurf zur pessimistischen Gesellschafts- und Zivilisationskritik, mit der Lenzi und Deodato das Genre begründeten. [1] Selbst Jeremy und Ana vermögen da nur ratlos dem motiviert davonpreschenden Wesenswandel hinterherzuschauen. Vieles unter den Motivationen der Truppe mag noch so sehr von unreflektierter Abenteuerlust getrieben sein – einfach entlangstromern, ein bisschen Spaß haben, das will man nach Eigenbekunden – unsere Helden macht es dennoch zu ungleichen Freunden im Dienste ein und derselben Sache. Franco rührt Hawksche Kameraderie mit Fordschem Zusammenstoß der Kulturen zu einem schon im Ansatze gänzlich antiquierten Exponat dieser 1980 doch ach so modernen Kannibalenfilme zusammen. Ohne größere Umstellungen abseits des Goregehaltes könnte „Mondo cannibale“ auch zu Hochzeiten des klassisch-amerikanischen Abenteuerfilmes entstanden sein, dessen Geist er großzügig ein- und ausatmet.
Es ist kein wirkliches Gegeneinander, mehr ein Nebeneinander, ein freundlicher Wettstreit mit gelegentlicher Teilnehmerverköstigung um die Gunst der weißen Göttin, deren Wünsche hinter (auch Genre-) Ikonografie zurückstecken müssen. Im Gegenschnitt – der die Route studierende Cliver mit den an Deck des Schiffes tanzenden Expeditionsteilnehmerinnen, dann diese mit dem Kannibalentanz einer erst unbestimmten Festivität. Raumübergreifender Schnitt, Lebensfreude jeder Partei für sich. Außer einer: Ein Schwenk wandert entlang Sabrina Sianis Körper, allein, starr in der Häuptlingshütte, wo die Trommeln von draußen nie verhallen. Dann tritt der Häuptling heran. Es ist eine Messe, eine Entjungferung, deren Begattungspflichtteil – mehr nicht – Stöße in ein Auf- und Abrecken des Gesichtes über dem ihrem transkribiert. Resignierte, vage Unglücklichkeit, mehr bekommt Siani, deren expressive Qualitäten Franco selbst verkannte, nicht zu tun – mehr braucht sie auch nicht tun, denn es ist mehr als jedem anderen zufällt. Immer wieder topft die Kamera Figuren als bloße Bewegung zwischen den Vorder- wie Hintergrund einnehmendem Grünzeug ein. Kleiner, immens aufgeplustert wirkender Busch vorn, reell, ganz nah und doch unscharf, immense Palme hinten als Rückendeckung der Wandernden – die Tapeten sind weitestgehend identisch. Von den Bildern als solche gelesene Eindringlinge mit guten Intentionen doch seelenbedingt verknoteten Zungen gegen ganz regulär in Produktionssprache den Kampf um das Eigene anstimmende Wilde – filigraner Nebendiskurs zur Schwerfälligkeit der genreimmanenten „Mi sto chiedendo chi siano i veri cannibali.“-Geisteshaltung. [2] Nahezu befreit von jedem dialogischen Nährwert liegt der Reiz von „Mondo cannibale“ in der Vermengung einzelner Versatzstücke, Überbegriffe, Gesten – er ist selbst ein unumwunden kannibalistisches Werk, das Kino ausweidet, verzehrt und in Magensaft variiert abermals ausspeit.
Sein wichtigster Bezugspunkt liegt in folgendem Affront: Wie John Fords kanonisiertes Kinoheiligtum „The Searchers“ (1956) schildert und vermisst Franco die Jagd nach der Form, die unsere fortgesetzten Wunschträume und Vorstellungen einem längst nicht mehr allein physisch weit entfernten Menschen gegeben haben. Schließlich gewähnt in den enger als gewünscht zupackenden Händen des in Variation von ihr befreiten Vaters, flüchtet sich die Gesuchte umgehend zurück in die Arme eines anderen Mannes – genuine Tragik, geboren ganz aus dem Chiffre, nicht Schauspiel, Psychologisierung oder Ausformulierung. Ein knapp bemessenes Finale löst die Suche nach dem Kinde endgültig in Männerbesitzgerangel um eine Frau auf; Lana Taylor kann ihren Vater nur durch den verzweifelten Schwur, mit ihm zu gehen, davon abhalten ihren Geliebten zu töten und lässt dadurch ihren Status als Anbetungsobjekt im Fluß zurück. Fords Meisterwerk pessimistisch auf das Wesentliche verknappt, anschließend umgedeutet: Jetzt ist sie nur mehr der zu raubende MacGuffin, als welcher sie ohnehin schon die gesamte Laufzeit über von den Männern behandelt wurde. So ist das wohl in Jesús Francos kinematografischer Welt, die aus Verdichtungen von Hollywoodkino, Genrecodes, -gesten wie -rollen allein eigene Gesetzmäßigkeiten und Aussagen destilliert. Der Überbau ist wie stets ein größerer, originär filmischer: Orte und Kulturen kommen und gehen, die Traurigkeit in Sabrina Sianis Zügen wird bleiben.
Natalie Wood und John Wayne in „The Searchers“ (John Ford, 1956)
[2] Die berühmten letzten Worte, die Professor Harold Monroe (Robert Kerman) am Ende von Ruggero Deodatos genrebestimmendem „Cannibal Holocaust“ nicht zuletzt auch in Richtung Publikum spricht. In der internationalen Fassung: „I wonder who the real cannibals are.“
Mondo cannibale – Frankreich, Italien, Spanien 1980 – 90 Minuten – Regie: Jesús „Jess“ Franco – Produktion: Daniel & Marius Lesoeur, Franco Prosperi – Drehbuch: Jesús „Jess“ Franco (als „A.L. Mariaux“ und „Jeff Manner“), Jean Rollin – Kamera: Luis Colombo, Juan Soler – Schnitt: Roland Grillon, Antonio Hermand – Musik: Roberto Predagio – Darstellende: Al Cliver, Sabrina Siani, Lina Romay (als „Candy Coster“), Jérôme Foulon (als „Yerome Foulon“), Antonio Mayans (als „Antony Mayans“) u.v.a.
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