100 Deutsche Lieblingsfilme #4: Engelchen oder Die Jungfrau von Bamberg (1967)



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Die Filme von Marran Gosov gehörten 2008 zu meinen unverhofftesten und schönsten Entdeckungen. Und mir fallen tatsächlich nicht viele Filme ein, nach denen ich so regelrecht beglückt aus einem Kino kam wie nach „Engelchen“, dieser ebenso bezaubernden wie eigenwilligen Mischung aus früher Sexkomödie, liebevollem Anarcho-Humor und Zeitdokument.

Protagonistin Katja fährt von Bamberg nach München, um sich dort entjungfern zu lassen. „Ich bin jetzt 19 – ich bin fällig!“ Doch dieses Unterfangen gestaltet sich unerwartet schwierig, weil die „freie Liebe“ der Schwabinger Lebenskünstler bei der forschen Jungfrau an ihre Grenzen stößt. Ein Stoff für zünftig-schmierige Sexploitation, doch Gosovs Langfilmdebüt schlägt eine gänzlich andere Richtung ein und strahlt eine entwaffnende Leichtigkeit und Lässigkeit aus, ist verblüffend ungezwungen, verspielt, albern, experimentierfreudig, launig, sympathisch und voller sprühendem Wortwitz. Nur eine (harmlose) Sexkomödie? Eher Genrekino als Chance, als unnötige Einschränkung höchstens auf Seite der Rezeption.

Hier werden keine Ambitionen forciert, und weil der Film sich nicht für das schämt, was er ist, und auch gar keinen anderen Eindruck erwecken will, ist er ganz bei sich, und damit eben doch so viel mehr, als es vielleicht zunächst den Anschein hat. Aber alles, was neben dem Einfangen eines Lebens- und Selbstverständnisses von Menschen und Milieu noch einfließt, seien es die unterschwellige Reflexion eines Zeitgeistes, das ins-Verhältnis-Setzen von gegenwärtigen Trends und Zwängen, die Abwägung zwischen scheinbaren kollektiven Überzeugungen und individuellen Bedürfnissen – all das schreit nie nach Aufmerksamkeit oder Gewichtigkeit. Es ist unterschwellig präsent, verdrängt aber nie die bezaubernd naiv-unschuldige, beschwingte und spielfreudige Atmosphäre, die von der Inszenierung und dem Schauspielerensemble (insbesondere der hinreißenden Gila von Weitershausen) ausgeht.

Der geradezu zärtlich-würdevolle Umgang mit den Figuren und vor allem der Protagonistin sorgt auch dafür, dass gerade im Verzicht auf ermüdendes Kolle-Bettgetümmel eine überraschend sinnliche Aura entsteht. Wahrscheinlich liegt es am Blick, den Gosov auf seine Figuren wirft, an der ganzen Art und Weise, wie er sie in Szene setzt, wie sie sich bewegen, wie sie Gegenstände anfassen, und wie er das zeigt. Wie der Film das Große im Kleinen skizziert und mit welcher Aufmerksamkeit er Details in den Fokus rückt, zeigt sich schon zu Beginn: im Zugabteil kommt es zu einer vorsichtigen, von keinem, noch nicht einmal einem verschämten, Blickkontakt begleiteten, flüchtig-sehnsüchtigen, tastend-streichelnden Berührung der Finger zwischen der Protagonistin und ihrem Sitznachbar, der wiederum mit der anderen Hand seine Freundin im festen Händedruck hält – alles, was sich in diesem Moment über die jeweiligen Figuren ausdrückt, passiert über die Interaktion ihrer Finger.

Viel ließe sich auch über Gosovs wiederkehrende Motive der Illusions(de)konstruktion und Selbstverwirklichung sagen, über den virtuosen Musikeinsatz, und doch ist es vor allem seine Haltung, die Entdeckungslust seiner Kamera, seine Leichtigkeit, die in Erinnerung bleibt – ein Film wie aus dem Ärmel geschüttelt, wie man ihn heute höchstens noch bei Thome findet. Und ein Film, der sich verwandelt zum Traum von jemandem, der einen Moment lang im Kino die Freiheit gespürt hat, wie es Michael Althen einmal ausdrückte. Oder wie es sich eben anfühlt, wenn in einem spielfreudigen Stück Unterhaltungskino plötzlich ein Hauch von Magie, etwas schlichtweg unwiderstehlich Anziehendes spürbar wird.



Engelchen oder Die Jungfrau von Bamberg – BRD 1967 – 81 Minuten – Regie: Marran Gosov – Drehbuch: Marran Gosov, Franz Geiger – Produktion: Rob Houwer – Kamera: Werner Kurz – Schnitt: Renate Schlösser, Gudrun Vöge, Enzio von Kühlmann-Stumm, Monica Wilde – Musik: Jacques Loussier – Darsteller: Gila von Weitershausen, Uli Koch, Dieter Augustin, Gudrun Vöge, Hans Clarin.

Hinweis: Die Nummerierung der Filme folgt lediglich der Reihenfolge der Einträge. Die Gesamtauswahl von 100 Filmen ist nicht redaktionell abgestimmt, sondern eine im Laufe der Veröffentlichung zufällig entstehende Zusammenstellung, die sich aus den Einzelbeiträgen und persönlichen Vorlieben der Teilnehmer ergibt.

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, Dezember 22nd, 2009 in den Kategorien Andreas, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #4: Engelchen oder Die Jungfrau von Bamberg (1967)”

  1. Sano on Februar 2nd, 2010 at 23:28

    Wow. Habe gerade eben erst deinen Text gelesen Andi. Ist wirklich sehr schön geschrieben – poetisch, fast wie ein Film von Marran Gosov selbst. Ich bin ja immer noch ganz bezaubert von den 8 Filmen die wir im Werkstattkino zusammen gesehen haben. Ja, so etwas dreht heutzutage kam mehr jemand.

    Vielleicht gibt es ja eines Tages mal eine DVD/Blu-Ray (oder was auch immer) Gesamtedition mit allen Kurz- und Langfilmen Gosovs. Am besten noch mit zeitgenössischen Interviews und Zeitungsberichten, Fernsehsendungen oderBeiträgen aus der damaligen Zeit, sowie nachträglichen Interviews mit Gosov aus heutiger Sicht. Natürlich noch mit Audiokommentaren zu jedem einzelnen Film von Gosov selbst und zahlreichen Filmwissenschaftlern und Bewunderern. Und die Dokumentarfilme die über ihn und sein Werk gedreht werden sollten dürfen dann natürlich auch nicht fehlen. Als Beigabe gibts noch ein Buch zu seinem filmischen Schaffen, sowie ein Kombipack mit seinen literarischen Arbeiten. 🙂

    Am erfüllendsten ist es natürlich immer noch die Werke im Originalformat auf der Leinwand sehen zu können. Aber man kann ja träumen…

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