100 Deutsche Lieblingsfilme #20: Engel, die ihre Flügel verbrennen (1970)
„Der Film spielt in einer Welt, die von weniger Menschen bewohnt wird als die heutige, was zur Folge hat, dass die Übriggebliebenen wohlhabender sind und vereinzelter leben. Irgendetwas ist geschehen, was dazu geführt hat, aber niemand will oder kann sich noch daran erinnern, was es gewesen ist.“
Nicht Zbyněk Brynych hat das über seinen, sondern ein anderer Filmemacher über einen anderen Film gesagt. Ich habe es erst nach der vor atemlosen Wahnsinn schlingernden Tragödie der versehrten Engel erfassen können.
ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN schleudert uns hinein in eine solche, somnambule Welt, hinein in ein Fegefeuer der von unsichtbarer Hand verwirrten Sicherheit des Menschlichen, hinein in ein futuristisch anmutendes, bedrohliches München bei Nacht, in die Anonymität eines riesigen Appartementhauses, in eine Welt nach 1968, aber in der nahen Zukunft.
Auf seinem Moped rast der 16jährige Robert Susmeit auf diese Welt zu, über die dunklen, nass glänzenden, nur von Leuchtreklame erhellten Straßen, seiner Mutter, Hilde Susmeit, hinterher. In lüsterner Ekstase ist sie mit ihrem Liebhaber auf dem Weg in dieses weiße Gebäude ist, um sich völlig gehen zu lassen. Die rasende Fahrt ist eine Flucht.
Jugendsolidarität scheint es nie gegeben zu haben. Ein dekadentes Großbürgertum hat die Freizügigkeit der Jugend für sich vereinnahmt.
Wie eine Meute von Raubtieren balgt es sich in der Bar des Hochhauses. Ohne Energie. Hedonismus weder mit Idealen, noch als Ideal selbst. Dort tanzen, zum elektronischen Weltraum-Rock’n’Roll von Peter Thomas, auch Eltern. Ihre Kinder, zu jung, um zu rebellieren und nicht alt genug, um zu zu reagieren, sind nicht mitgenommen worden auf dem Sprung von der Gegenwart in die Zukunft.
Robert wandelt suchend durch die gespenstischen, hell erleuchteten Korridore. Wonach er sucht ist nicht wichtig für ihn, nicht für uns. Man ahnt, dass er sich finden, neu erfinden wird in dieser Nacht. Wonach er sucht, das ahnen wir nur, als er den Liebhaber seiner Mutter mit einem Ventilgehäuse im Schwimmbad des Hauses erschlägt. Aber die gleichaltrige Moni Dingeldey beobachtet ihn – und erfasst es sofort.
Während der melancholische Inspektor Siegfried Rauch, zwischen sinnlosen Befragungen und einem verschämt-investigativen Flirt mit Hilde Susmeit (“Wissen Sie, Inspektor, dass ich noch nie bei jemandem so blaue Augen gesehen habe wie bei Ihnen?”), den apokalyptischen Neurosen einsamer Hausbewohner entgegentritt, verirren sich Robert und Moni in der Wohnung ihrer Mutter ineinander, in der Sicherheit des Affekts, dem Halt geteilten Schmerzes.
Kurz steht die Zeit im Apartement still: Robert und Moni wissen, was sie zusammengeführt hat. Vertrauen einander zögerlich, dann aber vollkommen, ausnahmslos. Fast schweigend. Sie haben auch Angst. In der sie wachsen, unmenschlich. Die flüchtige, aber impulsiv so greifbare Intimität dieser Momente dreht alles auf 0 zurück. Brynych, nicht nur ein Regisseur der rasenden Kamera sondern auch ein Regisseur des bedingungslosen Close-ups, kann von diesen beiden Gesichtern nicht lassen: Wie sie sich in wütender Verweiflung verzerrt und weinend aneinander schmiegen, als Monis Mutter im Nebenzimmer ihren eigenen Exzess veranstaltet.
Ein Exzess, der ihnen Angst macht um eine Liebe, unter der sie sich nichts vorstellen können und die diese Erwachsenenwelt in ihrem Konsum der Gefühle ihnen nicht erklären kann. Es ist der Film, der den Spieß umdreht und tatsächlich der Annahme folgt, dass die 68iger sich ins genaue Gegenteil ihrer Ausgangsposition verkehren könnten. Eine Dystopie. Auf der Strecke bleiben die Kinder selbst, weil ihnen keine Zeit geblieben ist.
Und dann gerät die mondäne, esoterisch pervertierte Welt dieses Hauses aus den Fugen, steigert sich das gelangweilte Partyvolk aus der Bar in eine reißende Hysterie, rottet sich zu einem geifernden Mob zusammen. Hetzt die beiden völlig unvorbereiteten Teenager in einer alptraumhaften Jagd durch die Korridore.
Im seidenen Licht am Ende der Nacht wanken diese als verlorenes Paar hinaus auf das Dach des Hauses. Hinter ihnen die Schreie der Meute, die Schreie des Vaters, der Mutter.
Da breiten die beiden Engel ihre versengten Flügel aus und fliegen davon. Der Inspektor sieht ihnen vom Fenster aus nach, mit seinen unglaublich blauen Augen – und weint.
ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN – BRD 1970 – 87 Minuten
Regie: Zbyněk Brynych – Kamera: Josef Vanis – Musik: Peter Thomas – Schnitt: Sophie Mikorey, Rosina Chromec – Drehbuch: Herbert Reinecker
Darsteller: Jan Koester, Susanne Uhlen, Nadja Tiller, Siegfried Rauch, Jochen Busse, Werner Kreindl, Karl-Otto Alberty, Ellen Umlauf, Hertha von Walther, Liane Hielscher, Wolfgang Völz