Populäres Liedgut, Hafenkneipen, Freddy Quinn, Wochenmärkte, Rotlichtmärkte, Fisch oder Fleisch – weder noch. Tillmann Scholls großangelegter Dekadenfilm – dessen Aufnahmewurzeln noch vor seinem Filmdebüt liegen – „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ ist der seltene Dokumentarfilm ohne Wahrheitsanspruch, die Weltvermessung, die sich von ihren Objekten beständig etwas vorspielen lässt, ohne sie zwingend abschließend verstehen, durchschauen, einordnen, schlimmstenfalls katalogisieren zu müssen. Denn Scholl weiß: Man kann sie nicht begreifen, die Leut‘. Größtenteils zentriert um den kleinen – so betont er selbst gern – Hamburger Schankwirt Jürgen Henflein, der beschäftigt hinterm Tresen des „Schauermann“ Bezugspunkt für die Ausgestoßenen St. Paulis und die in deren Welt eintauchende Kamera gleichermaßen darstellt. Darstellt. Weiterlesen…
Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein
Zerreißet vor des Mondes Untergang.
Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang
Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.
Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,
Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.
Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein
Eintönig kommt heraus in Stille matt.
Betulich gleitend brechen Maskierungen das Licht, verdecken es horizontal, dann vertikal, versuchen es auf vielfältige Weise auszusperren. Eine Theaterbühne, Stimmen aus dem Off. Bühnenprobe. Wieder und wieder brechen sich die Strahlen an neuen Stellen Bahn, bis die Maskierungen schließlich aufgeben. Ein Lichtquadrat auf der Bühne, zwei Schauspieler treten aus ihm hervor. Hinter ihnen ein distinktiver schwarzer Strich in der Landschaft, zwischen Bühnenboden und -hintergrund, eine Trennungslinie. Wir sind bei einer Theaterprobe, wichtiger als der Text ist jedoch die Inszenierung im Raum. Nicht Sprache, sondern Bewegung. Die Welt als Bühne, das Leben als Inszenierung, und die Menschen als Statisten. In Eva Hillers faszinierend direktem, filmischem Essay geht es um das Funktionieren des Systems, um die technischen Errungenschaften unserer Zivilisation. Um die Geister, die wir riefen, die Dunkelheit zu bannen. Um unsichtbare Tage. Weiterlesen…
Eine Theaterbühne, Stimmen aus dem Off. Wir sind bei einer Probe. Wichtig ist jedoch die Inszenierung im Raum, kein Text, sondern Bewegung. Es herrscht Sprachlosigkeit. Die Welt als Bühne, das Leben als Inszenierung, und die Menschen als Statisten. In Eva Hillers faszinierend direktem filmischem Essay geht es um das Funktionieren des Systems, um die technischen Errungenschaften unserer Zivilisation. Um die Geister, die wir riefen, um die Dunkelheit zu bannen, und die wir inzwischen nicht mehr los werden.
Als fieser Zwilling von Chris Markers Sans soleil irgendwo zwischen Nikolaus Geyrhalters Unser täglich Brot und Jürgen Böttchers Rangierer angesiedelt, changiert der Kamerablick immer wieder zwischen Präzision der Kadrierung und Authentizität des Augenblicks, zwischen Travelling Shot und Momentaufnahme, um vor allem die materielle Präsenz der Dinge hervorzuheben, die Gewalt der Oberfläche. Brutal könnte man Kamera und Montage nennen, unbarmherzig, gnadenlos, direkt, denn die Härte des Gezeigten wird in der Inszenierung nicht aufgehoben. Formal werden die Prozesse teilweise nachvollzogen, jedoch ohne ihnen einen konkreten Raum zuzuweisen, ohne die Möglichkeit der Entfaltung. Unmittelbarkeit, Gleichzeitigkeit, Virtualität. Es gibt nichts zu entdecken, alles liegt offen zu Tage, und gerade dadurch überfordern uns die Zeichen und Informationen, die von Maschinen in einer Geschwindigkeit decodiert werden, welche den Moment menschlicher Bewusstwerdung um ein Vielfaches übersteigt, und uns gerade dadurch den evolutionären Prozess der Bewusstseinsbildung permanent schmerzlich vor Augen führt. Die Dinge denken nicht, sie handeln.
Fear and Desire hieß der erste Spielfilm Stanley Kubricks. Die Angst und das Begehren, Furcht und die Erlangung der Macht über die Furcht. Wer die Nacht beherrscht, beherrscht den Tag. Das Kino von Unsichtbare Tage ist, wie das Kino des Stanley Kubrick, ein Kino der Nacht. Und das vielfach benannte Schweigen der Bilder bei Kubrick entpuppt sich durch Hillers Film einfach als das Schweigen des Menschen. Systemzwang, strukturelle Gewalt, die Flucht vor dem Ich, der Wunsch nach Herrschaft über etwas, das sich nicht beherrschen lässt, das Faszinosum, das Paradox der Kontrolle: die ganze Palette von Kubricks Themenkomplexen findet sich in diesem Film wieder, ebenso wie seine Art der Inszenierung. Kubrick in Deutschland? Ja, tatsächlich.
„Schau in die Sonne. Welche Sonne? Na, die Sonne. Ach, das gelbe Ding da oben. Siehst du sie? Aber ja doch, ist doch immer da, seh ich doch immer. Aber schau mal hin, schau mal rein.“ Wenn wir zu lange in die Sonne blicken, erblinden wir. Die Realität die immer vor uns liegt übersehen wir daher bewusst. Denn das Licht der Erkenntnis ist die ständige Präsenz, die immer schon ist, und die uns inzwischen regelmäßig überfordert. Technik ist bei Hiller wie bei Kubrick fahler Ersatz, vergebliche Flucht. Und die Menschheit dadurch ein System, das sich selbst auslöscht. Das Offensichtliche als Offensichtliches präsentieren. Der Leerlauf der Bewegung und die Unmöglichkeit der Ausdehnung des menschlichen Geistes ohne gleichzeitige Ausdehnung des Bewusstseins. Also dehnen wir unsere Körper.
Es ist ein Verschwörungsfilm ohne eigentliche Verschwörung. Ein Film, der vom aus der Zeit fallen erzählt, und dabei selbst aus der Zeit gefallen wirkt. Er hätte auch gestern gedreht werden können, oder morgen. Unsichtbare Tage transportiert keine Ideen, stellt keine Fragen. Er zeigt auf und gibt Antworten. Um dem Tod zu entfliehen, um die Nacht zu zerstören, müssen wir auch den Tag zerstören, müssen wir letztendlich Maschine werden. Also der nächste Schritt in einer Evolution, die die Angst vor der Evolution beseitigen will. Wenn die Sonne eines Tages verglüht ist, glaubt der Mensch weiterleben zu können, indem er die Realität durch die Virtualität ersetzt. Denn wie formuliert es die Sprecherin im Film: Wenn alles Illusion ist, verschwindet die Illusion. Und diese Hoffnung scheint es zu sein, die den Menschen in seiner Flucht vor der Auseinandersetzung mit sich selbst letztlich antreibt.
Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen – Deutschland 1991 – 75 Minuten – Regie und Produktion: Eva Hiller – Drehbuch: Eva Hiller, Wolfgang Kabisch – Kamera: Thomas Mauch – Musik: Matthias Raue – Schnitt: Stefan Beckers – Ton: Michael Busch – Sprecherin: Renan Demirkan
Bildquelle: derkrieger – http://tinyurl.com/4nmtaq2