Hofbauer-Report, 2. Teil: Was Gourmets den Schlaf raubt
Deutschland zwischen Speis und Trank – Der neue heiße Report über ein spezifisch deutsches kulinarisches Kino und ein fortwährendes schweres Versäumnis der Berlinale
Mit einer Fülle von sensationeller Information hat der erste Hofbauer-Report so vielen Lesern die Augen geöffnet, dass wir uns gezwungen sahen, erneute Untersuchungen anzustellen, neues Material zusammen zu tragen, so dass wir Ihnen heute Tatsachen aufzeigen können, über die selbst Kenner des deutschen Kinos nur ungern sprechen. Im ersten Teil haben wir Befragungen durchgeführt. Damals war noch kein zweiter Teil geplant. Doch die Flut der Zuschriften, die uns erreicht hat, veranlasste uns, eine Fortsetzung in Angriff zu nehmen. 1665 Einsendungen flatterten uns auf den Tisch. Und von diesen selbst erlebten, wahren Begebenheiten und Kinoerlebnissen haben wir uns inspirieren lassen, um erneut mit gezielten Stichproben filmgeschichtliche Zusammenhänge aufzudecken.
Ausgangspunkt dieses überfälligen zweiten Reports waren Zeitungsmeldungen, die in den vergangenen Wochen für hitzige Diskussionen sorgten. Im Zentrum stand immer wieder diese Schlagzeile: „Sondereinheiten unter Führung des Hofbauer-Kommandos konnten brisantes Material aus den Trümmern der Filmgeschichte bergen!“ Man muss weiter ausholen, um die Hintergründe zu beleuchten. Alles nahm seinen Anfang in einem sogenannten HK-Relevanz-Gutachten. Der Zweck eines solchen Gutachtens ist die Prüfung bestimmter filmischer Bereiche auf ihre HK-Relevanz, womit inhaltliche Berührungspunkte mit den primären Forschungs- und Interessensbereichen des Hofbauer-Kommandos gemeint sind. Im Rahmen eines außerordentlichen Hofbauer-Kongresses wurde aufgrund eines schwerwiegenden Anfangsverdachts der Beschluss gefasst, das sogenannte „Kulinarische Kino“ von Forschungsgruppen auf seine HK-Relevanz und dessen mögliche Unterschlagung prüfen zu lassen. Jener Schritt wurde forciert durch den bemerkenswerten Umstand, dass diese Sektion als Berlinale-Erfindung und persönliche Herzensangelegenheit von Festivalleiter Dieter Kosslick nun bereits international für Furore und Einladungen sorgt, gar „ansteckend ist“ und „sich als Exportschlager erweist“, denn bei „gutem Essen als Menschenrecht“ habe man „sich gerne auf die Erfahrungen der Berliner Festivalmacher gestützt, sowohl auf dem Gebiet des Kinos wie auf dem der Küche“.
Solche gegenwärtigen Modeerscheinungen fordern gleichwohl heraus, sich mit ihren filmgeschichtlichen Wurzeln zu beschäftigen. Gab es früher schon einmal eine solch markante Verbindung von Nahrung und Kino in Deutschland? Möglicherweise nicht nur in deutschen Lichtspielhäusern und bei Event-Veranstaltungen, sondern in der deutschen Filmproduktion selbst? Was dabei zum Vorschein kam, ist nichts weniger als die geheime Geschichte eines spezifisch deutschen kulinarischen Kinos, wie es bislang auf der Berlinale gänzlich unterschlagen wurde. Obwohl man sich dort als Förderer sowohl des deutschen Films als auch einer ausgeprägten kulinarischen Kinokultur versteht, scheint man nicht gewillt die Verbindung dieser beiden Bereiche, das deutsche kulinarische Kino, auch nur ansatzweise in seiner wirklichen Breite zu würdigen. Die Untersuchungen bestätigten: Es gibt hierzulande eine lange, nun schon beinahe vergessene und gerne verdrängte Tradition, wenn es darum geht, den Deutschen bei Speis und Trank auf der Leinwand zu zeigen. Ernst Hofbauer beschränkte sich in diesem Spezialgebiet auf vereinzelte prägnante Tableaus, viele seiner Kollegen schienen jedoch umso stärker gewillt zu beweisen, dass sie sich in Gaststuben, Wirtshäusern und im kulinarischen Alltag ihrer Leinwandfiguren auskannten. Jürgen Enz, Siggi Götz oder Rolf Olsen sind nur einige der bekannteren unter jenen, die dieses Thema sogar schon in den Titeln ihrer Filme prominent aufs Tablett brachten! „Unser kulinarischer Kino-Lustgarten ist frisch bestückt“ gilt daher keineswegs nur für die vor diesem Hintergrund ausgesprochen fragwürdige Reihe der Berlinale, wie wir nachfolgend in einem kleinen Abriss aufzeigen werden.
Kino und Nahrung, diese Beziehung war in Deutschland schon immer auch mit Sorgen und Ängsten, manchmal gar mit handfester Paranoia und Wettbewerbsdenken verbunden. So rätselte man lange, „Warum die UFOs unseren Salat klauen“, stellte dann aber eher zufällig zur nationalen Beruhigung fest: „Roboter essen kein Sauerkraut“, man musste sich also zumindest um das heilige Nationalgericht keine Sorgen machen.
Während hierzulande in der von Entsagung und Verzicht gezeichneten Nachkriegszeit „Heiße Kartoffeln“ oder – wenn man Glück und gute Kontakt zu den US-Boys hatte – „Spiegelei und Coca Cola“ das Höchste der kulinarischen Gefühle waren (in ganz mageren Jahren musste man gar lediglich mit „Kartoffeln mit Stippe“ vorlieb nehmen), schielte man im wirtschaftlichen Aufschwung zunehmend in die Fremde: Ein Hauch von Exotik, direkt in die eigene Küche importiert, das schien den Deutschen gerade recht zu sein.
Auch wenn man selbst „Sonne, Sylt und kesse Krabben“ vor der Haustür hatte, so delektierte man sich doch rasch bevorzugt an fremdländischen Genüssen, ohne die eigene Stube verlassen zu müssen – „Griechische Feigen“, „Spanische Oliven“ oder „Die türkischen Gurken“ erwiesen sich dabei als besonders begehrte Importschlager mit vollmundiger Note, schließlich konnte man auf sie umstandslos die eigene Sehnsucht nach mediterranem Müßiggang projizieren. Voreilig proklamierten manche gar „Nie wieder Sauerkraut“, aber mussten dann doch einsehen, dass „Babyspeck und Fleischklößchen“ auf lange Sicht kein hinreichender Ersatz sein konnten.
Doch in hauswirtschaftlichen Belangen war man durchaus vorn dabei und zeigte sich progressiv: Während man sich in den USA noch fragte: „Weiß sie, wie man Kuchen backt?“, war man hierzulande längst an „Bienenstich im Liebesnest“ gewöhnt und rätselte höchstens noch, ob „Die große Blonde mit der schwarzen Pflaume“ einfach nur „Das Mädchen aus der Torte“ war.
Auch den Italienern schien man voraus, denn wo man sich dort noch sichtlich mit radebrechenden Anweisungen wie „Hattu Keuschheitsgürtel muttu knabbern“ mühte, schritt man in hiesigen Gefilden längst frohgemut mit einem „Lass uns knuspern, Mäuschen“ oder „Laß knacken Schätzchen“ auf den Lippen zur Tat, wenn es um lukullische Freuden ging.
Nicht selten stellte sich in einem Etablissement, dessen Gepflogenheiten sich mit „Der nächste Herr, die selbe Dame“ umschreiben lassen, dem geneigten Besucher die Frage: „Junges Gemüse“ oder „Reife Kirschen“? Wer sich allzu leichtfertig entschied, verpasste schnell die Vorzüge von „Kirsch und Kern“.
Überhaupt nehmen Frühstück und Nachmittags-Kaffee eine besondere Bedeutung beim deutschen kulinarischen Kino ein, wie auch die Bildillustrationen dieses Reports unterstreichen. Die Bandbreite persönlicher Vorlieben ist dabei sehr vielfältig und kann sehr unterschiedliches umfassen, etwa „Fünf Bier und ein Kaffee“, „Schwarzwälder Kirsch“ oder „Zum zweiten Frühstück: Heiße Liebe“.
Wer so richtig Kohldampf hat, der gönnt sich im Überschwang freilich auch gleich mal „Sechs Bären mit Zwiebel“, während man sich in der gutbürgerlichen Küche eher an das angesichts solcher Alternativen nachgerade hauchdünne und enthaltsam anmutende „Wiener Schnitzel“ hält.
Ein exquisites Geschmackserlebnis von pikanter Würze versprechen Gourmetkochs zufolge jedoch kontrastintensive Schlemmer-Menüs, die zartschmelzende Leckereien mit süß-sauren Klebrigkeiten zu einem vollmundigen, wohlduftenden Bukett vermengen und ein ungewohntes Geschmackserlebnis sicherstellen! Frischlingen sei hierbei zu „Pizza und Marmelade“ geraten, für Fortgeschrittene verspricht hingegen „Hot Dogs und Bananeneis“ einen sämigen Festschmaus. Auch geringfügige Variationen können dabei hohe Effektivität erzielen und auf individuelle Vorlieben abgestimmt werden: Dem Vegetarier ist mit „Popcorn und Paprika“ gedient, während sich Naschkatzen eher an „Popcorn und Himbeereis“ verlustieren können. Erlesene Gaumenfreuden mit zartschmelzendem Aroma vermögen sich freilich erst bei „Austern mit Senf“ einzustellen.
Das kühle Nass, an dem sich dürstende Kehlen in der Bierschwemme laben, hat seit dem Niedergang der religiösen Vormachtstellung längst rituellen Glaubenscharakter. „Unser täglich Bier“ ist die Losung ungezählter Stammtische und Hopfenschänken. Ob eher süßlich oder herb im Abgang, und welcher Hausmarke mit Tradition und Reinheitsgebot man die wohlschmeckende Benetzung durstiger Zungen anvertraut, darüber streitet man sich zwischen „Maloche, Bier und Bett“ hingegen gern. Bei den südlichen deutschsprachigen Nachbarn mag man es hingegen Hochprozentiger – mit „Whisky, Wodka, Wienerin“ ist dort aber noch jeder Abend zu retten! Dazu muss man gar nicht zwingend die eigenen vier Wände verlassen, als Discount-Alternative reichen heutzutage bereits „Zwei Whisky und ein Sofa“ für eine lustvolle Abendgestaltung!
Wer nach dem Leitsatz „Sonne, Wein und harte Nüsse“ eher einem edlen, fruchtigen Tropfen zugeneigt ist, gönnt sich nach altem Brauchtum wiederum gerne mal „Ein rheinisches Mädchen beim rheinischen Wein“ oder greift zu einem „Champagner mit Pflaume“, um sich an einer vollendeten Schmeckleckerei zu erfreuen.
Um auch zu diesem Thema die „Stimme des Volkes“ einzubeziehen wurde jenem buchstäblich aufs Maul geschaut und in bewährter Manier Straßenbefragungen mit Passanten durchgeführt. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich und mitunter erstaunlich emotional aus, einige haben wir nachfolgend heraus gegriffen. Zunächst sprachen wir die Passanten auf die konkrete Reihe „Kulinarisches Kino“ (mit seinen Untersektionen wie „Youth Food Cinema“ und „Tea Time“) der Berlinale an:
Marianne S.: „Ach, darüber habe ich vor einiger Zeit auch in ‚Essen & Trinken‘ was gelesen, da war dieses Berlinale-Ding ein ganz großer Aufmacher. Der Herr Kosslick scheint da ja wirklich ein echter Ernährungsexperte und sehr gesundheitsbewusst und engagiert zu sein!“
Paula T.: „Berlinale? Kulinarisches Kino? Das ist doch so ein Schickimicki-Scheiß, oder?“
James E.: „I don’t speak German that good, but as far as I understand, there’s supposed to be a strong connection between food and cinema?! I’m unable to see that connection or the use of it, but maybe it’s a German thing, or something like that?”
Frauke V.: „Ich find das ja eine prima Sache! Bisschen Kino gucken und dazu lecker was essen in edlem Ambiente, das hat doch was! Ich freu mich ja auch, dass jetzt diese Luxuskinos immer mehr in Mode kommen mit eigenen Tischchen und ausladenden Ledersitzen. Vor so einem 2-Stunden-Schinken am Platz bedient zu werden und nebenbei Sushi und Wein schlürfen zu können, das ergänzt sich doch wunderbar! Und der Preis garantiert, dass man vom Pöbel und nervenden Jugendlichen seine Ruhe hat.“
Hermann N.: „Für meine Begriffe manifestiert sich darin der Niedergang der Kinokultur. Ich bin eigentlich sehr beherrscht, aber da könnte ich in Rage geraten, das sage ich Ihnen! Wer die Leinwand derart verachtet, soll sie doch gleich abschaffen, und jeder schaut sich den Film nur noch auf einem Aufstellmonitor an seinem Tisch an, dann muss man den eigenen Hohlschädel wenigstens gar nicht mehr vom Teller abwenden!“
Wir setzten unsere Befragungen fort und brachten nun ausdrücklich unsere Forschungsergebnisse zum spezifisch deutschen kulinarischen Kino ins Gespräch ein:
Stephanie J.: „Haha, ich lach mich schief, was sind das denn für Titel? Das haben Sie doch erfunden?! Hm… Aha, ein authentischer Tatsachenbericht und nachweislich dokumentierte Filmgeschichte, im Ernst? Meine Güte, wo sind wir denn hingekommen, und ich dachte bisher, das Niveau vom Privatfernsehen lässt sich nicht mehr unterbieten…“
Walter O.: „Sie sammeln Material für einen Hofbauer-Report, sagen Sie? Was hat das alles denn mit diesem Hofbauer zu tun?! Sie arbeiten wohl genauso unseriös wie Ihre Vorbilder, was? Und dafür soll ich mich mit meiner Meinung hergeben? Ich verzichte gern!“
Yusuf L.: „Spanische Oliven? Türkische Gurken? Mein Herr, das können Sie gleich hier bei mir im Laden kaufen, wie viel möchten Sie denn?“
Hartmut G.: „Ich kenne jetzt Ihre aufgezählten Titel nicht, aber nachdem wir Deutschen ja in fast allen Bereichen Spitzenleistungen erzielen, glaube ich Ihnen gerne, dass wir hier in Deutschland ein kulinarisches Kino von Rang haben. Das sollte man natürlich würdigen, da bin ich ganz auf Ihrer Seite!“
Jasmin D.: „Ich hatte heute noch keinen Bissen zwischen den Zähnen. Hören Sie mal auf, man wird ja ganz hungrig bei diesen Ausführungen!“
Frank A.: „Geiler Scheiß! Zieht das Ding durch, Leute! Die Filme machen ja auch echt Laune, solches Zeug haben wir früher auf unseren Filmabenden auch häufiger mal eingelegt – als Partyknaller echt unschlagbar!“
Adeltraud M.: „Also in meinen Ohren klingt das recht albern. Junger Mann, Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?“
Manfred F.: „Na, wenn Sie intensive Forschungen unternommen haben, wird wohl etwas dran sein. Ich kenne mich auf dem Gebiet nicht so aus. Aber reichen Sie das doch mal ein, vielleicht hat die Festivalleitung eine solche Idee noch gar nicht in Betracht gezogen!“
Dietmar E.: „Hm, jetzt wo Sie das so sagen, regt es mich doch zum Nachdenken an…“
Nach diesen aufschlussreichen Einblicken in das deutsche Lebensgefühl und seine kulinarischen Traditionen im Spiegel des Kinos scheint eine Aufarbeitung dieser Wechselbeziehung dringlicher denn je. Das Hofbauer-Kommando reagierte umgehend und boykottierte nach Bekanntwerden der Ergebnisse des HK-Relevanz-Gutachtens die Berlinale 2014 geschlossen. In einer offiziellen Stellungsnahme zeigt man sich kämpferisch:
„Wie Ernst Hofbauers Schulmädchen sind wir realistisch, aber auch romantisch! Betuliche Arthousefilme in distinguierter Sterne-Küchen-Umgebung – mit einem derart selektiven und verzerrten Ansatz wird man der Bandbreite des kulinarischen Kinos wahrhaftig nicht gerecht! Noch haben wir die Hoffnung nicht aufgegeben, eines schönen Tages im gut gefüllten Berlinale-Palast zu sitzen und dort ein Doppelprogramm mit „Semmel, Wurst und Birkenwasser“ und „Cola, Candy, Chocolate“ zu erleben, zusammen mit über 1.500 anderen Besuchern, die ihre Eintrittskarten für 4,99 Euro in jeder Eckkneipe oder Dönerbude erwerben konnten – und nach dem Filmprogramm werden Currywürste mit schön fettigen Pommes auf versifften Papptellern gereicht, um dem spezifisch deutschen kulinarischen Kino stilecht zu huldigen. Mahlzeit!“
Ob sich die Hoffnung der gestrigen jungen Menschen von heute erfüllt, oder wie eine Seifenblase im Wind zerplatzt, werden womöglich erst zukünftige Generationen beantworten können. Fachbeobachter erwarten einstweilen gespannt die weitere Entwicklung der leider nur scheinbar revolutionären Sektion „Kulinarisches Kino“ der Berlinale ab und geraten allzu leicht in kontroverse Diskussionen, wenn es um die Frage geht, ob sich die Berlinale irgendwann endlich zu den Wurzeln des spezifisch deutschen kulinarischen Kinos bekennen wird. Was wird die Zukunft bringen?
© Das Hofbauer-Kommando, 2014, (Andreas).
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