goEast 2016: Die letzte amerikanische Nacht des Andrzej Z.
© goEast Filmfestival
Der Miklós Jancsó-Film, der mich am meisten beeindruckt hat, ist wahrscheinlich Csend És Kiáltás (1968) („Stille und Schrei“). Der Film lief beim goEast 2014 zum Tod des Regisseurs. Und mein liebster Andrzej Zulawski-Film ist L’important c’est d’aimer (1975). Der lief dieses Jahr auf dem Festival, ebenfalls zum Tod des Regisseurs. Außer Konkurrenz. In mehrfacher Hinsicht.
Da sein letzter Film Cosmos (2015) für das Festival zu teuer gewesen wäre, wurde auf diesen, Zulawskis dritten Langfilm zurückgegriffen, dessen seltene französische Filmkopie aus dem Besitz des Autors und Filmemachers Gary Vanisian stammt. Es folgte ein bittersüßer Abschied im halbvollen Kinosaal, der auch von den Kommentaren einer biestigen Filmwissenschaftlerin aus den hinteren Reihen („’Le Mépris‘ ist viel besser!“) nicht zunichtegemacht werden konnte.
„Ihre Welt liegt im Sterben, sie bricht zusammen. Schwamm drüber. Wir begraben Prometheus mit oder ohne ihre Schaufel Erde. Aber Sie, Sie wissen nicht, was Sie wollen. Sie sind jetzt schon erledigt.“
Mit Possession (1981), dem wahnsinnigen Berlinfilm, den Zulawski sechs Jahre später machte, hat sich der Regisseur neu erfunden, gleichzeitig aber auch selbst überholt. Possession ist der ultimative Beziehungsfilm, der alle vorherigen Beziehungsfilme negiert, sie lächerlich macht; der ultimative Schauspielerfilm, der seinen Akteuren alles abverlangt, sie zerstört, neu zusammensetzt, wieder verwirft, ironisiert, hysterisiert und zum Abschuss freigibt; ein Film, der versucht, sein Korsett zu sprengen und nicht merkt, dass dieses Korsett gar nicht existiert. Denn Possession zeugt von ultimativer künstlerischer Freiheit. Und diese kann mitunter zerstörerisch sein, sich selbst auslöschend, während Grenzen einen anspornen, herausfordern können und zur ständigen Bewegung zwingen.
Nicht jeder ist geschaffen für die Freiheit. Für Filmemacher wie Woody Allen, Martin Scorsese, Quentin Tarantino wurde sie zur Falle. Für Andere ist sie Antrieb. In der Filmografie von Andrzej Zulawski war die künstlerische Freiheit ein Privileg, das er ungefähr jeden zweiten Film hatte und es auch auszuschlachten vermochte. Auf Trzecia częśc nocy (1971) folgte der rasende Diabel (1972). Auf L’important c’est d’aimer folgte der endgültige Possession. Für mich ist Zulawski in seinen (verhältnismäßig) kommerziellen, weniger freien Filme der interessantere Filmemacher und zwar aufgrund der Entscheidungen, die er innerhalb seiner Unfreiheiten trifft. Er hat viel an L’important c’est d’aimer auszusetzen gehabt, sei es die Besetzung von Fabio Testi, der Titel oder der eigentliche Stoff. Er tat den Film oft als „bürgerliches Drama“ ab. Doch wenn man einen genaueren Blick auf die Vorlage wirft, Christopher Franks Roman Nachtblende (im Original: „La nuit américaine“), erkennt man, was für radikale Entscheidungen Zulawski getroffen hat, wie er sich den Stoff zu eigen gemacht hat, ihn transformiert hat. Seine Adaption verhält sich zu Franks Roman wie Possession zu La Boum (1980).
„Man muß vom Menschen ausgehen“, sagte er, „davon lasse ich mich nicht abbringen.“
Christopher Frank arbeitete in London als Beleuchter und später als Regieassistent beim Royal Court Theatre in London. Dann ging er nach Frankreich, wo er für eine Pariser Fotoagentur arbeitete. Er kannte also sowohl die Welt des Theaters wie der Fotografie. So handelt sein Roman vom jungen Fotografen Servais Mont, der sich in eine Schauspielerin verliebt, der er (unter Pseudonym) ein Theaterstück auf den Leib schreibt und ihr damit die stagnierende Karriere wieder ankurbelt. Servais ist ein Tausendsassa, treibt sich gerne in zwielichtigen Clubs herum, fotografiert angehende Sternchen (gerne nackt), nimmt aber auch spektakuläre Aufträge an, wie ein Erdbeben in Chile und dessen Opfer zu fotografieren, und rettet einen Mann, der sich mit seiner kleinen Tochter und einem Karabiner auf dem Dach eines Hochhauses verschanzt hat. Beliebt bei den Damen ist er auch. Aber das bedeutet ihm natürlich nichts, weil alles, was er will, Nadine Chavalier ist.
Christopher Frank überfrachtet den Roman mit vielen grellen Einfällen und pflegt dabei einen selbstverliebten, manchmal arg geschwätzigen Stil (das Privileg eines 29-jährigen, vor Selbstbewusstsein strotzenden Schriftstellers). Dazu ist Nachtblende bevölkert von vielen unterschiedlichen Charakteren, die vom Ansatz her interessant sind, aber nie zu ende gedacht werden. Kurz, das Buch wirkt, als hätte es kein Lektorat gehabt. Dazu ist es von einer aufgesetzten Coolness, einem Stil, der sich zu sehr in seinem Flanieren durch die prekäre Welt der Schauspieler, Schriftsteller und zahlreicher gesellschaftlicher Randfiguren gefällt. Und selbst wenn Tragödien in diese Welt Einzug halten, wirken die Figuren wie ihr Autor doch seltsam unbeteiligt und entrückt.
„Wissen Sie, daß er sehr krank ist?“
Servais nickte.
„Ja.“
„Er wird bald sterben, wie mein Bruder.“
„Ihr Bruder?“
„Ja.“
„Woran ist er gestorben?“
„Am Ekel.“
Zulawski ist der Ekel vor dieser Selbstzufriedenheit des Erzählers deutlich anzumerken. Er nimmt den Figuren ihre Leichtigkeit, ihre Abgeklärtheit nicht ab. Bei ihm sind sie alle abgehalftert, am Ende. Emotional wie existentiell. Servais Mont (Fabio Testi) ist kein cooler Globetrotter oder Stückeschreiber. Er ist ein Fotograf, der seine Schulden bei der Mafia mit kompromittierenden Fotos abarbeitet; der bei der Mafia einen Kredit aufnimmt, um eine Theateraufführung mit Nadine Chevalier (Romy Schneider) zu finanzieren, für die es vielleicht eine Chance ist, dem Sumpf des Exploitationfilms zu entkommen. Ihr Mann Jacques (Jacques Dutronc), ein von der Außenwelt entkoppelter Depressiver, der sich mit letzter Kraft an seine Filmleidenschaft klammert, begeht Selbstmord und Zulawski erspart ihn uns nicht so wie der Roman, wo Jacques‘ Leiden in einem seichten Nebel der Andeutungen kaum zu erspähen ist. Bis sein Selbstmord übersprungen, überflogen, übergangen wird. Zulawski dagegen hält drauf, zeigt uns die letzten qualvollen Sekunden von Jacques, der eine Überdosis Tabletten geschluckt hat, zeigt uns seinen Leichnam, zeigt uns Servais und Nadine im Leichenschauhaus, der eine voller Unverständnis, die eine voller Trauer, aber beide schuldbeladen.
Alle Figuren, auf die sich Zulawski konzentriert, Servais, Nadine, Jacques, der Schauspieler Karl-Heinz Zimmer (Klaus Kinski), der bittere Schriftsteller Lapade (Michel Robin) bewegen sich stets am Rande des Wahnsinns und Nervenzusammenbruchs, gezeichnet durch zahllose Niederlagen und Tiefschläge. Sie tun, was sie können, für das bisschen Glück, das sie finden und ausbeuten. Sie beuten ihre Emotionen aus, bis nichts mehr übrig bleibt – nur der Wunsch, das ewige schwarze Loch wieder aufzufüllen. Zulawski durchschaut die verklärende Romantik von Christopher Frank und verkehrt sie ins Gegenteil.
Zulawski hatte wahrscheinlich wenig übrig für den Hype um den damals erfolgreichen Roman, dessen Figuren er genüsslich die Masken abriss, mit denen Frank sie ausgestattet hatte. Er konfrontierte die Figuren mit ihrer eigenen Erbärmlichkeit, den Autor mit seiner eigenen Oberflächlichkeit, die Schauspieler mit ihrer eigenen Zerbrechlichkeit und destillierte daraus pure Authentizität, puren Ausdruck. Er musste wohl oft verbrannte Erde am Set hinterlassen haben.
Servais stand auf, ging ein paar Schritte weg und drehte sich mit der Nikon in der Hand um. Im Sucher sah er Karl in der Mitte des Saales stehen; er steckte sich gerade ein Zigarillo an und starrte eine der drei Prostituierten mit unverschämter Gier an.
Man lernt sehr viel über den Charakter von Zulawskis Adaption, wenn man das Ende von Buch und Film vergleicht. Bei Frank ist Servais mit einem Bekannten essen, der ihn auf der Rechnung sitzen lässt. Servais kann das Essen nicht bezahlen und landet bei der Polizei. Er ruft Nadine an, die ihn herausholen soll. Die Liebesgeschichte, die sich die ganze Zeit angebahnt hat, wird beginnen. Im Film jedoch trifft Nadine auf Servais in seiner kalten, kargen Wohnung. Er liegt blutend in der Ecke, zugerichtet von seinen alten Mafiafreunden. Eine Szene, bei der selbst die Kopie des Films im Kino, voller Jumpcuts und Verschmutzungen, kaum zusammengehalten wird, stottert und aufschreit, wie kurz vorm Reißen. Gar nicht mal so unpassend. Es ist wichtig zu lieben. Aber schwer auszuhalten.
Alle Zitate aus Nachtblende von Christopher Frank (Deutsch bei Paul Zsolnay)
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