Dostoevsky’s Travels (1991) oder Rette uns, Dimitri!



Dimitri Dostojewski ist der Urenkel des großen russischen Schriftstellers gleichen Namens. Drüben in der zerfallenden Sowjetunion ist er ein arbeitsloser Straßenbahnfahrer. In Europa hingegen ist er nicht nur der letzte Nachkomme, sondern auch ein Platzhalter für die viel besungene russische Seele und alles, was sonst so gut ist an der Russiana! Er, der Pragmatiker mit dem zaghaften Gemüt, wird von der schleswig-holsteinischen Dostojewski-Gesellschaft als „Experte“ geladen, um fachkundige Vorträge über Literatur und Gesellschaft zu halten; er wird durch diverse Empfänge und Diskussionsrunden geschleift, weil sich die Menschen Antworten erhoffen, was mit diesem großen Land geschehen wird, wohin es steuert (doch hoffentlich Richtung Demokratie) und ob die Lektüre des ehrenwerten Fjodor das russische Volk wird erretten können; und außerdem weil sein Name, ach, dieser Name, so schön funkelt. Und dabei will Dimitri doch nur einen Mercedes kaufen.

Dimitris Reise durch Deutschland, Liechtenstein und England, seine unverschämte Leichenfledderei, sein Marketingsinn, kurz: seine Überlebensstrategie ist der Schwerpunkt dieses brillanten BBC-Dokumentarfilms von Pawel Pawlikowski. Und doch ist Dimitri auch ein treffendes Symbol (besser: Symptom) für die Entwicklung, die die Sowjetunion nach Glasnost und Perestroika genommen hat. Dimitris bescheidene Versuche, aus dem geistigen Kapital seines großen Namens finanzielles Kapital zu schlagen fungiert hier als Präludium zum großen Ausverkauf des Landes durch Privatisierung und Korruption, der nur kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beginnen sollte. Dimitri wird zum schamlosen Hustler, der sich für keine Werbekampagne zu schade ist, stoisch und regungslos alles über sich ergehen lässt und dabei von Pawlikowski zu einer Art russischem Buster Keaton stilisiert wird (freilich zum späten Keaton aus Becketts obskurem Film, der, vom Alter gezeichnet, einfach nicht mehr mit der Zeit mithalten kann).

Wenn Dimitri nach dem zukünftigen politischen Kurs seines Landes gefragt wird, beschwört er, dass nur die Monarchie die richtige Staatsform für Russland sein könne. Seine Gebete wurden vermeintlich erhört, als der volltrunkene Zar Boris auf der Bildfläche erschien (der seinen Zenith nach dem Putsch von 1991 überschreiten und sich danach nur noch dem Delirium hingeben würde). Journalist Paul Klebnikow beschrieb Jelzins Regierung folgendermaßen: „Allmählich wurden Jelzin und seine höchsten Beamten ein einziger Klüngel – sie lebten zusammen, arbeiteten zusammen, spielten und tranken zusammen. Es war ein Hof im traditionellen, monarchistischen Sinn des Wortes.“ Aber daran hat der Tramfahrer und Lebenskünstler, der nach eigenen Angaben 23 Berufe in seinem Leben ausgeübt hat, natürlich keine Schuld.

Die traurigste Idee des Films, die nach einer zynischen Finte des Regisseurs riecht, stammt tatsächlich vom Urenkel selbst: Den berühmten Roman Der Spieler nutzt er als Ratgeber für eigene Glücksspielunternehmungen in Baden-Baden. Selten hat sich Realsatire in solch schwindelerregende Höhen begeben. Und selten war ein beginnender Filmemacher dabei um es vollends auszukosten. Heute sieht Pawlikowski den Film kritisch, weil er zu inszeniert, zu gelenkt scheint, sich vielleicht auch etwas zu hämisch seiner Hauptfigur gegenüber benimmt. Doch Dimitri und Pawel haben sich eindeutig gegenseitig benutzt. Und am Ende hatte jeder, was er wollte. Und wann passiert das schon mal?

Dostoevsky’s Travels war der Auftakt zu einer Russland-Trilogie für die BBC, der Pawlikowski noch zwei weitere tolle Dokumentarfilme schenken sollte: In From Moscow to Pietushki erzählt er die Geschichte des gleichnamigen Kultromans von Wenedikt Jerofejew und behandelt nebenbei das große Dauerproblem der Russen, das Trinken. Tripping with Zhirinovsky wiederum ist ein Porträt des politischen Clowns und Hardliners Wladimir Schirinowski, der seit dem Bestehen der Russischen Föderation regelmäßig radikale Stimmungen transzendiert, ohne jemals ernst zu machen.
Diese drei Filme (eigentlich vier, wenn man Serbian Epics mitzählt, einen Film über den Jugoslawienkrieg), die sich auf so unterschiedliche Weise spirituellen wie materiellen Krisen, literarischen wie politischen Themen widmen, sind hoch destillierte, dichte und vor allem auch tragikomischen Werke, in denen Inhalt und Form, Geschichte und Geschichtsanalyse, Realität und Fiktion eine so symbiotische Allianz eingehen, wie es nur die beste non-fiction vermag.
Und doch überstrahlen die Reisen Dimitri Dostojweskis auch diese Filme, genau wie Pawlikowskis spätere Spielfilme. Denn Casting ist alles. Und der Regisseur weiß das ganz genau.

Quelle:
Klebnikow, Paul: Der Pate des Kreml. Boris Beresowski und die Macht der Oligarchen. München: Econ 2001.

Safarow schreibt

Dieser Beitrag wurde am Freitag, Februar 24th, 2017 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Sven Safarow veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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