Angeln am See der Zeit mit Dario Argento – La terza madre (2007)
Dario Argentos einstmals heiß ersehnter Abschluss seiner bis zu diesem Zeitpunkt über alle Maßen sakrosankten Mütter-Trilogie erschien, ich weiß es noch genau, auf dem Höhepunkt meiner jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase – im Rahmen einer Klassenfahrt in die Bretagne lächelte mich die DVD neue Exzesse verheißend an und schon immer einem alten Stück Leder gleichend, konnte ich sie, Minderjährigkeit hin oder her, umstandslos ergattern. Das Ergebnis der Erstsichtung war freilich prädeterminiert: Der Film splatterte gewaltig, ergo gefiel er. Und obgleich ein nicht geringer Misserfolg bei Kritikern, ja sogar eingefleischten Fans begegnete er mir nach dem alterungsbedingten Wegfall obigen Qualitätsmerkmales noch einige Male, häufiger als jedes andere Werk seiner Filmografie. Und proportional zu meiner anzunehmenden, sich beständig ausbreitenden geistigen Umnachtung gefiel er mir mit jeder weiteren Sichtung noch ein winzig Stückchen besser. Heute, etwa zehn Jahre nach seinem internationalen Erscheinen, halte ich ihn für eine so luzid träumerische, vor in alle passenden wie unpassenden Richtungen streuender Ambition berstende Großtat, wie sie wohl nur in den ungehemmt digitalen Umbruchsjahren der frühen bis mittleren Zweitausender entstehen konnte. Etwas, das wie die Zuneigung zu den Alterswerken Argentos nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr so recht zum guten Ton gehören will.
Wahnsinnig ist ein Adjektiv, das viel zu gerne für die Beschreibung maximal gehoben deliranter Filmkost – sei es für das anämische Surrealismus-Malen-nach-Zahlen Alejandro Jodorowskys oder den neusten, ach so komplexen Streich Christopher Nolans – rausgepeitscht wird. „La terza madre“ hingegen scheint dieser Worthülse wahrhaftig zu entsprechen, schmeißt munter Dinge zusammen, deren Vermählung wohl selbst Lucio Fulci, Argentos vorverstorbenem, als Meister der spratzelnden Geschmacklosigkeit geltenden Konkurrenten, die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Es handelt sich schon gar nicht mehr um harsche Kontraste, eher kindliche Gemütsschwankungen, die ohne Unterlass hier kredenzt werden – in einem Moment wirkt der Film recht erwachsen für sein Alter, im nächsten landet er aus eigenem Antrieb schreiend am Boden und suhlt sich mit unschuldigem Gusto in der Pampe. Klingt verdächtig nach jenem vollkommen abhandengekommenen Gespür fürs Filmemachen, das Argento seit nunmehr 30 Jahren wieder und wieder von Gott und der Welt attestiert wird, hat aber mehr mit dem exakten Gegenteil dessen zu schaffen, mit Methodik, mit seiner auch von ansonsten nicht selten eher kritisch herüberlugenden Augen wie den meinen kaum zu bestreitenden inszenatorischen Meisterschaft.
Und ein derart ausgeprägtes Gespür für den filmischen Fluss der Zeit, wie es hier demonstriert wird, findet sich sich in seinem Werk dann auch tatsächlich nur noch im gleichsam verkannten „Il gatto a nove code“ (1971), der dem Zuschauer das Gefühl des Überfallenwerdens der Figuren so furchtbar gern vermittelt, indem er ihm einfach unvermittelt dasselbe antut. Das Tempo, Abstufungen seiner selbst wie Sprünge erzählen bei weitem mehr, nahezu alles über die entworfene Welt, verbinden die Pole zwischen ungewöhnlicher Ruhe und krassestem Gesplatter wie Wolle den abstrakt abgesteckten Grundriss einer besonders anspruchsvollen Häkelei. Der ganze Film kommt einer Reise entlang dieser Fäden gleich, in einem Schnellzug (ganz zur Geschichte passend) von Knotenpunkt zu Knotenpunkt – das erhebende Gleiten, dann eine außerplanmäßige Baustelle, umsteigen… Mist, der Ersatzzug ist zu früh dran. Laufen, zweifeln, gewinnen. Adrenalin. Asia Argento schwebt wie ein Schulmädchen zwischen den Exponaten des wohl entschleunigsten Ortes der Menschheitsgeschichte, eines nächtlichen Museums umher, Sekundenbruchteile später zerhackstückeln Schauergestalten ihre Arbeitskollegin, schlagen ihr munter alle Zähne aus … öffnen ihr den Bauch, Gedärm rutscht auf den Fussboden, zappelnd und schreiend leidet die Frau, bis man ihr beinah gnädig Atem und letzte Lebenskraft mit den eigenen Innereien aus dem Körper würgt. Asia flieht durch die vordergründig nichts von ihrer entspannenden Ausstrahlung verloren habenden Endloskorridore – eine identische Einstellung, zwei grundverschiedene Tempi – bis sie vor den Türen einfach so zur Ruhe kommt, ganz als würde eine unsichtbare Trennwand ihre Häscher ausbremsen. In diesem Auftakt steckt bereits all das drin, was im weiteren Verlauf immer aufs Neue geschüttelt, dann anders zusammengepuzzelt wird. Nichts daran ist in irgendeiner Weise juvenil oder dem Zeitalter entsprechend ironisch eingefärbt, die eigenwilligen Montageentscheidungen nehmen der Gewalt die lustvoll comichafte – und ja, allein des gelegentlichen CGI-Einsatzes wegen schon entschieden artifizielle – Zelebration sogleich wieder weg.
Entfernte Punkte auf der Stadtkarte Roms werden durch kontrastierende Schnitte aneinandergelötet. Gleich nach dem Auftaktschock sitzt Asia mit ihrem Freund und dessem kleinen Sohn zusammen, es geschieht absolut nichts von irgendeiner Dringlichkeit, nur Zärtlichkeit und ihre erratische Intonation beim Anblick des überkochenden Kakaos muss so in etwa eine der zwei, drei hinreißendsten Sachen auf dieser Welt sein – „Chocolate!“ Da nimmt anderswo eine Mutter lächelnd vor Glückseligkeit ihren Nachwuchs aus dem Kinderwagen… und donnert ihn über die Brückenbegrenzung, ungerührt lässt ihn die Kamera am Mauerwerk zerschmettern, nun weint die Täterin. Ein ander Mal schwelgt Asia in der verlorenen Mutterliebe ihrer Kindheit, während draußen vor der Türe eine Frau vergewaltigt wird. Zärtlichkeit, Tod und Trauer bilden ein emotionales Dreieck, das in den Unruhen, dem Wahnsinn, der sich nach der Ankunft der Hexen ungehemmt durch alle gesellschaftlichen Schichten Bahnen bricht, über allem zu thronen scheint. Die ländliche Idylle der Udo Kierschen Pfarrei folgt als Spiegelung umgehend auf Asias hektische Flucht – via Schnellzug! – aus der Großstadt und folgt einer strengen Staffelung, die die sich überstürzenden Ereignisse des ersten Handlungsortes nachahmt, sie aber ungleich schneller und nachhaltiger eskalieren lässt. Der kümmernde Arm der Haushälterin auf den Schultern des Sohnes, Vergangenes erleuchtende Gespräche mit Priester und Freundin der Mutter – Zärtlichkeit, die erste Eskalationsstufe. Der Wandel der Haushälterin, die Kier, ihren eigenen Filius, sich selbst in Sekunden niedermetzelt – Tod, die zweite Stufe. Die haltlose Flucht vor den auftauchenden Irren und die ernüchterte Niederkunft im Heim der beiden lesbischen Frauen – Trauer, die letzte Stufe und der Übergang zur Repetition des Zykluses.
Für ein interessantes Intermezzo bleibt kurz Zeit: Die Wärme in der Beziehung der beiden Frauen erstaunt, erinnert an Horst Frank und Werner Pochath in „Il gatto a nove“, der beschützende Blick bei der Ankunft des Eindringlings, die offenkundige Eifersucht, auch über dreißig Jahre später noch sind Homosexuelle bei Argento normale Menschen mit normalen Gefühlsregungen, keine unersättlichen Raubtiere. Nicht uninteressant in Anbetracht seiner mordlüsternen Mütter hier und in einem guten halben Dutzend anderer Filme, bei denen die Heterosexualität, der Gegenentwurf zur sexuellen Devianz bereits in der filmischen wie gesellschaftlichen Rolle steckt. Ein Diskurs so klein und endlich wie der ungewöhnliche Zufluchtsort im Chaos, beides soll nicht von Dauer sein. Abermals die Zündschnur verknappend schlägt die Düsternis auf, kein Helfer darf jemals davonkommen. Eine entschiedene Ungerechtigkeit speziell, aber nicht ausschließlich des Argentoschen Spätwerkes ist die Tatsache, dass sein grausames Todesballett viel zu gerne jene erreicht, die nichts als liebenswert sind. Nicht bei einer einzigen der zahlreichen Frauen in „Non ho sonno“ (2001) wird irgendeine wie auch immer geartete tendenzmisogyne Relativierung – Zickigkeit, Promiskuität, you name it, die Klassiker, sie sind ja wohlbekannt – dämpfend zwischen den Zuschauer und die Härte des gen Magen schwingenden Fausthiebes geschoben. Für „Il cartaio“ (2006) und „Giallo“ (2009) gilt dasselbe, Unschuldige wohin das Auge auch blickt. Die Welt ist schlecht. Oder: „[…]God’s plans for us are mystery for everyone but him.“, wie es Asias Freund im Dialog mit einem jungen Priester einmal herbeizitieren darf. Argentos Welten sind nicht nett, pflegen lieber einen romantischen Pessimismus – egal wie sehr man sich bemüht, was schiefgehen kann, das wird auch schiefgehen.
Selbst der akzentuierenden Entschleunigung, die in vielen vorangegangenen Werken – insbesondere „Il gatto a nove code“ mit seinen Angleichungen und widersinnigen Unterbrechungen des Tempos – Zuflucht und Wärme spendete, ist hier nicht mehr vollständig zu trauen. Drei herausstechende gibt es von ihnen in den drei Segmenten der Handlung – Rom, das Land, wieder Rom – und mit der zunehmenden Straffung der Episoden wandelt sich ihre Funktion für den Fluß der Zeit. In der animierten Sequenz, die die Erzählungen des just erwähnten Priesters illustriert, kommt „La terza madre“ zu einem vollständigen Halt und damit alle immanenten Geschehnisse, die so eben noch Fahrt aufnahmen. Eine trügerische Ruhe, auch hier wohnt diesem stilistischen Mittel bereits eine Täuschung inne – die endgültige Eruption lugt verstohlen ums Eck, der als Held aufgebaute Freund wird diese Rolle, sein Leben gleich dazu schnell verlieren. Von der zweiten Tempodrosselung etabliert wird eine distinktive Eigenheit des Films: Als Katalysator solcher Verschiebungen fungiert, so scheint es, die Kunst. In diesem Fall kein Film im Film, sondern Regale voller Bücher, zwischen denen Asia in einer Bahnhofsbuchhandlung ihre Verfolger durch einen kleinen Zaubertrick abzuschütteln vermag. Beinahe zu einer großen Sammlung akkumuliert pflegt die Kamera ein geradewegs fetischistisches Verhältnis zu Kunstwerken jedweder Form – die Fresken des Vorspanns, Asias unermüdliche Symbolsuche zu Beginn des Films, die Architektur, im Besonderen Statuen, Säulen, Treppenhäuser, alles wird ohne umgehend evidenten Grund wieder und wieder penibelst eingefangen. Nach mehr als 35 Jahren erreicht Argento noch einmal die zutiefst eigensinnige visuelle Abstraktion seines Erstlings „L’uccello dalle piume di cristallo“ (1970), allein werden hier Kunstbilder und Tempi statt Glas in abertausenden Varianten, Funktionen wie Daseinszuständen angehäuft.
Im Finale schließlich, das abermals in eine traum- bis alpraumhafte Unterwelt hinter der Fassade eines prächtigen Baus führt, läuft all dies mit höchster Konsequenz zusammen. Eine entspannende Dusche darf nach den Strapazen des Landlebens noch eine letzte Pause vor dem Abstieg ins Herz der Finsternis spenden, doch bereits die krönende unserer kunstinduzierten Entschleunigungen gerät endgültig zur Subversion: der zweite große Literatursammelpunkt des Films – die Bibliothek eines ältlichen Alchemisten – ist eine Finte, hält lediglich ein kraftzehrendes Verhör bereit. So muss Asia bereits gebeutelt zu einer überdeutlich von „Profondo rosso“ (1975) inspirierten, alle Ströme der Zeit multipel aufspaltenden Hauserkundung aufbrechen, ein Hausierer unterbricht, die riesigen Katakomben unter dem eigentlichen Keller längen sie zu einem zähen Schlamm. Das Innenleben des Hauses existiert hier nicht einigermaßen erreichbar hinter Putz und versiegelten Türen verborgen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Im Herzen ist „La terza madre“ eine coming of age-Geschichte, Argentos größte neben „Phenomena“ (1985), dessen jugendliche Protagonistin er clever durch eine erwachsene Frau auf der Suche nach sich selbst ersetzt und die das Bewegung aussparende Morphing austauscht gegen eine Weiterentwicklung über kontinuierlich länger ohne Ruhe, ohne Pausen Durchgestandenes. Das gepflegte Eigenzitat arrangiert neu, ist nicht reine Bestandsverwaltung wie in „Non ho sonno“ – auch in Argentos Filmographie steht die dritte Mutter für den Fortschritt, der im Idealfall auf die Stagnation folgen darf.
Dementsprechend überrascht die fuchsteufelswild freidrehende Metagymnastik der letzten Minuten schwerlich: Offensichtlich eine Replik auf die immer mal wieder vernommenen Überhastungsvorwürfe gegenüber „Suspiria“ (1977) und „Inferno“ (1980) entpuppt sich der Sieg über Mater Lacrimarum als schlichtes Fingerschnipsen. Der lange Aufbau nur um lakonisch die Abrissbirne pendeln zu lassen – nicht erst seit gestern eine Spezialiät des ungewürdigten, außerhalb jeden Taktes pochenden Humors Argentos. Gen rettender Oberfläche darf sich Asia durch unermüdlich von oben herab auf sie niedergekotzte Innereienpampe wühlen – eine letzte Reminiszenz an „Phenomena“ und im mit diebischer Freude unentwegt auftischenden Tonfall des Films fast eine Art Zustandsbeschreibung nicht nur des eigenen Vorgehens, sondern auch des post 2000er Horrorkinos, seiner Zeigefreudigkeit, der nie endenden Diskussionen um torture porn. Schlagen die absurden Schlussbilder womöglich in eine ähnliche Kerbe? Vor Entkräftung torkelnd steigen die beiden letzten Überlebenden aus der Kanalisation empor, lassen sich hysterisch die Seele aus dem Leibe lachend inmitten einer außerweltlichen Trümmerlandschaft, das einstige Rom, nieder und starren der Dinge harrend in die Ferne. „Dellamorte Dellamore“, das vormals letzte große Aufbäumen des italienischen Horrorkinos, inszeniert von Argentos gelehrigem Schüler Michele Soavi, endete 1994 auf frappierend ähnliche Weise. Seitdem kam kaum mehr Relevantes nach, den Meister zog es zwei Jahre später mit dem treffend betitelten „Giallo“ zurück zu seinen Ursprüngen, noch später dann, mit seiner bislang letzten Großtat „Dracula 3D“, zu denen des Horrors an sich. Zehn Jahre nach seinem flächendeckenden Erscheinen wirkt „La terza madre“ kaum weniger der Zeit entfallen wie das Relikt, dessen Auftauchen die Geschichte in Fahrt bringt. Irritierend, von verschrobener Schönheit, doch hinter der zeitgenössischen Einkleidung tun sich betörende Untiefen auf.
La terza madre – Italien, USA 2007 – 102 Minuten – Regie: Dario Argento – Produktion: Claudio & Dario Argento, Marina Berlusconi, Giulia Marletta – Drehbuch: Dario Argento, Jace Anderson, Walter Fasano, Adam Gierasch, Simona Simonetti – Kamera: Frederic Fasano – Schnitt: Walter Fasano – Musik: Claudio Simonetti – Darsteller: Asia Argento, Daria Nicolodi, Christian Solimeno, Moran Atias, Udo Kier u.v.a.
[…] – André Malberg rehabilitiert auf Eskalierende Träume Dario Argentos „La Terza Madre“. […]