100 deutsche Lieblingsfilme #7: Die Carmen von St. Pauli (1928)
Die Kamera zittert, die Kamera wogt. Menschenmassen strömen nach Feierabend den Hafen entlang in die Stadt hinein. Wenn sich das Leben ergießt kann man nicht still stehen.
Toll ist in diesem Film nicht nur die Atmosphäre im Hafenviertel, mit dokumentarischen Aufnahmen und dem Blick fürs Alltägliche. Den Aufnahmen vom wogenden Wasser, den Schiffen die ruhig vor Anker liegen. Man hat das Gefühl von Präsenz; dass die Filmcrew nicht nur kurz für ein paar exotische Außenaufnahmen das Studio verlassen hat, um die Handlung mit Authentizität zu füttern, sondern ganz einfach vor Ort war. Oft und lang und ganz. Und dass die Handlung und ihre Geschichte aus dieser Umgebung erwächst, sich sozusagen aus dem Dunkel der Nacht, dem Himmel dem Meer, und dem Treiben der Menschenmassen herausschält. Wenn Willy Fritsch mit dem Boot Richtung Hafen und zu Jenny Jugo fährt, oder wenn er nachdem er für ein Schiff nach Australien angeheuert hat, am Steg, direkt vor der Abreise, in der Bewegung einer Passantin seine Geliebte zu erkennen glaubt, und rennt und rennt und rennt, durch die Straßen – dann ist der Film ganz nah an französischen Klassikern der Periode wie Grémillons Maldone (1928), Epsteins Mauprat (1926) oder Renoirs La fille de l’eau (1925) , dem was im Gegensatz zum deutschen expressionistischen Film als französischer Impressionismus bezeichnet wurde. Nur, seine Lokalität verläßt er nie, er ist ganz Hamburg, und hat dadurch ebenso eine Qualität wie die besten Filme über New York oder Paris. Rauheit und Symbolismus von Pabst trifft auf Lyrik und Lokalität von Murnau. Tendenzen der Neuen Sachlichkeit mischen sich mit Bildern des Hollywoodkinos.
Toll ist auch Jenny Jugo. Wenn sie spricht, wenn sie tanzt, wenn sie einen anblickt, schreit, weint. Das finden in diesem Film fast alle Männer, und das findet auch Willy Fritsch. Doch Willy Fritsch ist eine Diva. Mit stoischer Entschlossenheit kreist er nur um sich selbst, und man glaubt sein ständiger Verdruss rühre wohl auch daher, dass im Kiez zu wenig Spiegel zu sehen sind. Und wenn Fritsch Gloria Swanson channelt, scheint Jugo Pola Negri gefressen zu haben. Sie nimmt sich was sie will, auch ihn der eigentlich gar nicht zu ihr passt, aber dafür um so mehr: „Ich liebe dich. Zum ersten Mal liebe ich jemanden. Und alles Andere ist mir egal“. Sie, die Frau, ergreift diesmal die Initiative, um sie dreht sich alles, aber im Gegensatz zur Verführerin ist sie nicht der Mittelpunkt, im Gegensatz zur Femme Fatale ist sie nicht diejenige die die Fäden zieht. Der Mann ist Beiwerk, wie in so vielen Filmen der 20er Jahre, jedoch nicht als Held, nicht als Retter wird er interessant, sondern weil die Frau es will, weil sie ihn will, weil sie ihn interessant macht. Im Prinzip ist ihr Geheimnis ganz simpel. Sie bewegt sich. So viel, so intensiv, dass alles und alle um sie herum ebenfalls angestoßen werden. Am Ende gibt es wegen ihr einen Mord, was nicht anders zu erwarten war. Aber am Ende gibt es wegen ihr auch ein Happy End. Was auch nicht anders zu erwarten war.
Die Carmen von St. Pauli – Deutschland 1928 – Regie: Erich Waschneck – Produktion: Alfred Zeisler – Drehbuch: Bobby E. Lüthge und Erich Waschneck – Kamera: Friedl Behn-Grund – Darsteller: Jenny Jugo, Willy Fritsch, Franz Rasp, Wolfgang Zilzer, Tonio Gennaro, Otto Kronburger, Walter Seiler, Charly Berger, Fritz Alberti, Max Maximilian, Betty Astor, Friedrich Benfer
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