100 Deutsche Lieblingsfilme #6: Das fliegende Klassenzimmer (1954)



DasFliegendeKlassenzimmer

In Kurt Hoffmanns Verfilmung des ewigen Jugendbuch-Klassikers nimmt Kästners Erzählweise die epische Erscheinungsform an, die ihr gebührt – nicht zuletzt wegen seiner Drehbuchmitarbeit sehr viel mehr als in den meisten anderen Adaptionen seiner Romane. Kästners klarer und manchmal auch erschreckend direkter Blick auf das Innenleben seiner Charaktere, denen er menschlich so oft so erstaunlich und bewunderswert nahe kam, ohne sich ihnen dabei als „Schöpfer“ aufzudrängen und ihnen ihre Intimität zu nehmen, ist hier mit beachtlicher Kongenialität in eine den Kitschfallen des kommerziellen deutschen Nachkriegsfilms weitgehend elegant ausweichende, transparente Filmsprache übersetzt worden. In seinen Anflügen von poetischem Realismus (Kamera: Friedl Behn-Grund – ALRAUNE [1952]) weckt Hoffmanns Film mitunter Reminiszenzen an die Filme von Jean Vigo – weniger an dessen Internatsfilm ZERO DE CONDUITE denn sein Hauptwerk L’ATALANTE- während das naturalistische Schauspiel insbesondere der jungen Darsteller wiederum an Elia Kazan erinnert. Vergleiche wie diese können aber nur Randnoten sein, denn das hier ist ein Familienfilm – ohne den meisten negativen Konnotationen dieses Terms Rechnung zu tragen.

Die einzige Strömung in Kästners Werk, die seinen suchenden Observationen und seinem Humanismus hier und da widersprach, war sein – sicherlich auch der gesellschaftlichen Mentalität während der Jahrhundertwende geschuldeten – Hang zu überstürzten moralischen – wenn auch niemals reaktionären oder schulmeisterlichen – Implikationen, die unter anderem in seinen Kurzgeschichten dominanter auftreten als hier. Vieles davon hat sich in den Film gerettet und doch ist es wundersam und beeindruckend, mit wieviel Respekt Hoffmann den Charakteren vielleicht nicht ganz auf Augenhöhe aber doch auf „Wellenlänge“ begegnet. Kinder im deutschen Nachkriegsfilm sind ein zwiespältiges Kapitel für sich. DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER gehört zu den wenigen deutschen Filmen der 50iger, in dem sogenannte Kinder- und Jugend -Probleme angerissen werden und der dafür ohne Scheu vor dunklen Untertönen das Melodram schrammt – für eine Fokussierung auf Kinder und Jugendliche in der gesellschaftlichen Hierarchie war es noch zu früh.

Zwischen den verträumten, schwarzweißen Postkarten-Impressionen des verschneiten Kufstein und der Rahmenhandlung um die Theateraufführung auf der Weihnachtsfeier stehen Momente, in denen die Angst vor dem Verlust dieser mit versonnenem Ernst zusammengehaltenen Verbindung der Jungen, dieser Ersatz-Familie durchschimmert. In denen der von familiären Notständen geplagte Martin im Stillen und der um seinen Status in der Gruppe bangende Uli schließlich lauthals Höllenqualen durchstehen. Vor allem wer selbst ein Internat besucht hat, wird die Präzision der Milieuzeichnung zu schätzen wissen, die Darstellung der Figur des Justus und seines Verhältnisses zu den Schülern – und die spezifische Romantik und nur sporadisch ins Sentiment abgleitende Zärtlichkeit, die Hoffmann und Behn-Grund ihr einhauchen. Vor allem besagte Milleuzeichnung illustriert die Zeitlosigkeit der vor allem inneren Konflikte, die bei Kästner beinahe immer auf emotionaler Repression beruhen. „Warum hast du mir das denn nie gesagt?“ fragt Matz Uli an seinem Krankenhausbett. Dass diese Frage nicht nur im Drehbuch steht, sondern sich durch den gesamten Film zieht und dabei die meisten jungen wie erwachsenen Figuren miteinbezieht, das macht DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER zu einer allen zeitgeistigen Widrigkeiten trotzdenden deutschen Meisterleistung auf dem Feld des Kinderfilms.

DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER – BRD 1954 – Regie: Kurt Hoffmann – Drehbuch: Erich Kästner, nach seinem Roman – Produktion: Günther und Klaus Stapenhorst – Kamera: Friedl Behn-Grund – Musik: Hans-Martin Majewski

Darsteller: Peter Tost (Martin), Bert Brandt (Matz), Knut Mahlke (Uli), Peter Kraus (Johnny), Axel Arens (Sebastian), Michael Verhoeven (Ferdinand), Peter Vogel (Der schöne Theodor), Paul Dahlke (Justus), Paul Klinger (Der Nichtraucher), Heliane Bei (Schwester Beate), Bruno Hübner (Professor Kreuzkamm)

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, Dezember 31st, 2009 in den Kategorien Blog, Blogautoren, Christoph, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

7 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #6: Das fliegende Klassenzimmer (1954)”

  1. Alexander P. on Dezember 31st, 2009 at 18:44

    Schön, dass die Fünfziger auch endlich in unserer Reihe vertreten sind. Hatten wir nicht vor einiger Zeit mal über die verschiedenen Verfilmungen diskutiert, wobei ich die 73er-Version mit Fuchsberger favorisiert habe? Wenn ich deinen Text so lese, fällt mir auf wie lange ich die Version von Hoffmann schon nicht mehr gesehen habe. Wie ich vor ein paar Tagen bei GELIEBTES FRÄULEIN DOKTOR gemerkt habe bin ich eigentlich kein großer Fan des Pauker- und Pennälerfilms, aber es wäre doch mal ganz interessant zu erfahren womit dieses Genre begonnen hat und ob Kästners Roman und diese erste Verfilmung nicht ein wichtiger Ausgangspunkt waren.

    Was kennst du denn sonst noch so von Hoffmann? Ich habe vor kurzem FEUERWERK mit der jungen Romy Schneider in ihrer erst zweiten Rolle gesehen. Sehr unterhaltsamer Versuch den amerikanischen Musicals der Zeit ein bißchen nachzueifern mit einigen wirklich tollen visuellen Einfällen. Im Januar strahlt der BR übrigen SALZBURGER GESCHICHTEN aus, bei dem ebenfalls Kästner das Drehbuch geschrieben hat, den gibt es aber auch sehr günstig auf DVD. Würde jedenfalls alles dafür geben, endlich mal FANFAREN DER LIEBE zu sehen, aber weder eine Filmkopie noch eine DVD noch eine TV-Ausstrahlung scheinen da in absehbarer Zeit möglich zu sein… 🙁

  2. Alexander Schmidt on Januar 5th, 2010 at 18:32

    Sehr schöner Text zu einem ebensolchen Film, den ich viel zu lange nicht mehr gesehen habe! Ich fand früher (so mit 10-12 Jahren) übrigens die Filme der Paukerreihe („Pepe der Paukerschreck“ etc.) eigentlich ziemlich toll. Würde da auch gerne mal wieder einen sehen…

  3. Christoph on Januar 6th, 2010 at 03:39

    Ja, die Liste wird ohnehin sehr 60iger und 70iger-lastig werden – ich kenne selbst auch nicht allzuviele deutsche Filme aus den 50igern, die ich hierfür in Erwägung ziehen würde. Ich habe vor Unzeiten einmal ein extrem düsteres Melodram (meine Liebe zu düsteren Melodramen ist sowieso sehr alt und meine Entdeckung von Sirk vor zwei Jahren ein sehr absehbarer Schritt) im Fernsehen gesehen, mit einer bis zum Bittersten leidenden Frau die von einem Typ a là Ruth Leuwerik gespielt wurde. An den Titel (und an den Namen der Hauptdarstellerin – es hätte tatsächlich die Leuwerik, aber auch jemand anders sein können) erinnere ich mich natürlich nicht mehr – aber der Film wäre ein Kandidat, wenn ich ihn ausfindig machen würde. Solche Erlebnisse hatte ich oft und im Nachhinein ist es leider beinahe unmöglich, die entsprechenden Filme wieder zu finden.

    Manchmal auch aus pragmatischen Gründen – „Das fliegende Klassenzimmer“ war meine allererste VHS ever und sie scheint mir abhanden gekommen zu sein, weswegen dieser Text rein aus dem Kopf heraus entstanden ist. Ich zweifle nicht daran, dass mich der Film bei einer erneuten Sichtung voll begeistern wird (sonst hätte ich ihn nicht gewählt) aber eigentlich hasse ich es, ohne frische Eindrücke zu schreiben. Ich finde den Text scheiße, aber das ist ja nichts neues.

    Apropos sch…: Die Diskussion zu den beiden Fassungen können wir gerne noch einmal aufnehmen, wenn du die 54er-Version wieder einmal gesehen hast.;-) Interessanterweise hatte ich die 70iger-Fassung schon etwa drei- oder viermal gesehen, als mir eine Tante 1995 oder 1996 die 54er auf VHS schenkte, d. h. ich war also eigentlich schon extrem vorbelastet.

    Von Hoffmann kenne ich sonst nicht mehr besonders viel. Die 1966er-Verfilmung von HOKUSPOKUS, den ich vor ebenfalls langer Zeit im Fernsehen gesehen habe, damals noch auf unserem uralten s/w-Fernseher womit die schrillen Pop-Farben der künstlichen Sets natürlich nicht im Geringsten zur Geltung farben. Als ich vor zwei Jahren zufällig ein kurzes Stück des Films beim seltenen Zappen erwischte, war ich völlig baff ob dieser grellen Buntheit. Meine Erinnerung ist allerdings noch frisch und ich habe den Film als sehr interessant in Erinnerung, auch wenn mir schon damals Heinz Rühmann zunehmend auf die Nerven fiel (Wobei ich allerdings schon ernsthaft in Erwägung gezogen habe, SCHÄM‘ DICH, BRIGITTE! zu besprechen…) DAS SPUKSCHLOSS IM SPESSART, den ich als Kind ganz famos fand und natürlich QUAX, DER BRUCHPILOT, dem ich allerdings nie etwas abgewinnen konnte. FANFAREN DER LIEBE wäre natürlich sehr interessant, auch wenn es sich wohl schwierig gestalten dürfte, den Wilder-Klassiker beim sehen auszublenden.

    @ Alex S.

    Merci beaucoup. Ich bin ja schon fast schockiert – du magst diesen Film?!
    Von den Pennäler-Filmen ist mir LUDWIG AUF FREIERSFÜSSEN (der natürlich kein richtiger Pauker-Film ist) besonders im Gedächtnis geblieben – eine meiner Cousinen und ich versuchten damals stundenlang, das burleske Zugpfiff-Niesen des trotteligen Lehrers nachzuahmen… Heute würde ich diese Filme vermutlich nicht mehr ertragen, auch wenn die meisten Teile ja sogar von dem recht kompetenten Werner Jacobs inszeniert wurden.

  4. Happy Harry mit dem Harten on Januar 6th, 2010 at 22:13

    Klingt gut, hab den Film bis heute nicht gesehen und auch nur ein Buch von Kästner gelesen. Kommt eventuell auch etwas zu DIE KONFERENZ DER TIERE, der ja auch auf Kästner basiert?

    Auch andere deutsche Animationsfilme wären natürlich was feines, vielleicht was von Lotte Reininger? Ganz besonders schön wäre aber ein Beitrag zu ADAM 2, auf den ich durch den Reclam-Band „Animationsfilm“ aufmerksam geworden bin. Überhaupt gibt es ja viel zu wenig zu lesen zum deutschen Zeichentrickfilm früher Tage – also eigentlich auch eine ideale Baustelle für Eskalierende Träume… 😉

  5. Christoph on Januar 7th, 2010 at 01:45

    KONFERENZ DER TIERE habe ich als Kind mal gesehen, leider ebenfalls auf besagtem s/w-Fernseher – was natürlich ziemlich katastrophal ist. Damals war mir der Film zu schräg (stilistisch) – vielleicht würde er mich heute daher sehr ansprechen aber ich gebe unumwunden zu, in Sachen Animationsfilm bislang relativ ignorant gewesen zu sein. Irgendwie besteht da für mich immer eine ähnliche emotionale Hürde wie auch bei Stummfilmen (bei letzteren hat sich das allerdings inzwischen auch geändert).
    Lotte Reiniger hat zumindest einen Fan in unseren Reihen der hier sicherlich mitliest und sich hoffentlich motiviert / angesprochen fühlen wird;-)

  6. Happy Harry mit dem Harten on Januar 7th, 2010 at 17:02

    Mit KONFERENZ DER TIERE geht es mir ähnlich, da meine Liebe zum Animationsfilm aber beständig wächst, steht er natürlich auf meiner Liste relativ weit oben. Inwiefern hast du den Animationsfilm bisher ignoriert – beziehst du das auf deutsche Genrefilme, einfach nur alte oder allgemein? Besonders im Kurzfilm-Bereich gibt es ja eine wahre Flut spektakulärer Filme, die durch das Internet in großer Zahl zugänglich gemacht werden. Wenn ich da alleine an die zahllosen kleinen Meisterstückchen vom National Film Board of Canada denke. Müssen wir unbedingt mal aufürhlicher besprechen…

    Von Lotte Reininger kenne ich bisher nur den Prinzen Achmed (der ein wahrer Traum ist), allerdings gibt es ja schöne DVDs mit anderen Werken von ihr.

  7. Sano on Februar 3rd, 2010 at 00:16

    Das ist ja ein Zufall Christoph. Bei unserer Nummer 7 des Kanons hat nämlich auch Friedl Behn-Grund die Kamera geführt, und ich war restlos begeistert. Laut imdb ist er mit 180 Filmen wohl einer der profiliertesten deutschen Kameramänner, der zahlreiche Jahrzehnte und deren Veränderungen miterlebt hat. Sehe mit einem Blick auf seine Filmographie, dass ich einige der Filme noch ungesehen im Regal stehen habe. Da werde ich in Zukunft sicher genauer hinsehen.

    Das fliegende Klassenzimmer habe ich noch in keiner Version im Fernsehen gesehen, wie ich auch sonst beinahe jungfräulich geblieben bin, was Kästnerverfilmungen angeht. Als Kind war ich aber ein großer Verehrer seiner Schreibkunst.

    Von mir wird es für die Reihe aber auf jeden Fall auch eine Besprechung von einer Kästnerverfilmung geben: Pünktchen und Anton aus dem Jahre ’53, meinem vielleicht liebsten Kinderfilm, wobei ich diese Bezeichnung eigentlich gar nicht mag (Filme sind m.E. nach für Alle da, und ich halte Altersbeschränkungen bei Filmen generell in jeglicher Hinsicht für äußerst fragwürdig). Habe ihn schon mehrmals gesehen (erstaunlicherweise zum ersten Mal im Alter von 21 oder 22 Jahren), zuletzt sogar im Kino, und er ist jedesmal ein Genuß. Finde es ist einfach einer der besten Filme die ich kenne. Kategorisierungen wie Kinder- oder Jugendfilm brauche ich da gar nicht benutzen.

    Von Kurt Hoffmann kenne ich immer noch keinen einzigen Film, obwohl ich in den letzten 6 jahren zahlreiche(!) Versuche unternommen habe das zu ändern. Aber es soll wohl einfach nicht sein.

    Und die Paukerfilme habe ich als Kind (etwa bis zum Anfang der Pubertät) seeehr geliebt. Meine armen Eltern mussten wohl seh leiden, weil ich die IMMER wenn sie im Fernsehen liefen schauen wollte – egal ob um 20 Uhr oder 22 Uhr. Deke sie könnten mir inzwischen wieder ganz gut gefallen, und manche funktionieren (wenn mich meine Erinnerung nicht trügt) als Trash sicher vorzüglich. Zumindest aus Nostalgiegründen ist eine erneute Sichtung jedenfalls ein Muss.

    Deine Text ist übrigens 1A Christoph. Finde es ist einer von deinen Gelungensten!

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