100 Deutsche Lieblingsfilme #47: Verspieltes Leben (1949)
Wo kommen sie nur her, fragen einige von uns bei Eskalierende Träume sich immer noch und immer wieder, diese vielen unbekannten deutschen Filme, diese bizarren Meisterwerke, die uns jedes Mal von Neuem erstaunt auf die Leinwand blicken lassen, und denen es so einfach gelingt uns zu überrollen und in ekstatische Schwärmerei zu versetzen (und ab und an auch dazu zu bewegen, einen Text für diese Reihe zu verfassen)? Wie die meisten ihrer Filme über die Jahrzehnte verloren und verschütt gegangen, erscheint uns die deutsche Filmgeschichte (vor allem in ihrer eigenen Geschichte, den zahlreichen Erzählungen von sich selbst), als ein nicht versiegen wollendes Füllhorn, dessen Faszination für uns bevorzugt von den unzähligen, teilweise unerforschten Neben- und Seitensträngen augeht, und deren enorme Vielfalt bis heute bevorzugt unterdrückt, missachtet oder verkannt worden ist. Wer hat sie schon gesehen und wer interessiert sich überhaupt für die hunderte von Filmen, die in Deutschland jedes Jahr entstanden sind und immer noch entstehen? Die FFA benennt allein für 2012 die Zahl der in den deutschen Kinos gestarteten Spielfilme(!) mit 149 (man sollte sich diese Zahl einmal auf der Zunge zergehen lassen…) und rein quantitativ gehörte Deutschland, auch über die politischen Veränderungen hinweg, zu allen Zeiten zu den produktivsten Filmländern der Welt. Deutschland, eine filmverrückte Nation? Es bleibt wohl weiterhin eines der großen ungelösten Rätsel, warum bis auf die beliebten Schlagwörter Expressionismus und Neuer Deutscher Film generell immer noch gerne ein qualitatives Dahinvegetieren des heimischen Filmschaffens perpetuiert wird.
Aber zurück zum vermeintlichen „Einzelfall“, Kurt Meisels Verspieltes Leben von 1949. Was mich im Kinosaal zunächst am Meisten erstaunt, sind die unübersehbaren stilistischen Gemeinsamkeiten welche auf Max Ophüls und Veit Harlan verweisen (was für eine Kombination! – Meisel arbeitete jedoch zumindest bei Halrans Immensee (1943) und Kolberg (1945) als Regie-Assistent). Sein zweiter Film als Regisseur (Meisels Regiedebüt war die kurz zuvor entstandene Tragödie einer Leidenschaft) weist jedoch Einflüsse aus allen möglichen (und unmöglichen) Richtungen auf. Meine liebste Szene des Films, in der die weibliche Hauptfigur Ulyssa 1914, in einem kurzen Moment des Innehaltens, in den Abgrund einer vordergründig harmonisch ruhenden deutschen Landschaft blickt, nachdem sie nur Augenblicke zuvor vom Ausbruch des bis dahin von ihr noch belächelten Krieges erfahren hatte, erinnert im formalen Aufbau beispielsweise stark an eine vergleichbar wehmütige Szene Scarlett O’Haras im amerikanischen Südstaatenmelodram “Vom Winde verweht“ (1939). Aber auch der Einfluß von Douglas Sirk lässt sich ausmachen, in dessen Schlußakkord (1936) und Das Hofkonzert (1936) Meisel zwei seiner ersten Filmrollen bestritt, und für dessen La Habanera (1937) Gerhard Menzel, einer der Szenaristen von Verspieltes Leben, ebenfalls das Drehbuch schrieb (Menzel, der ab 1933 Stammautor von Gustav Ucicky war, für den er bis in die 50er über ein Dutzend Drehbücher verfassen sollte, arbeitete auch an Filmen wie Veit Harlans Der große König (1942), Willi Forsts Die Sünderin (1951) oder Harald Brauns Herrscher ohne Krone (1957) mit). Interessant an dieser Zusammenarbeit von Kurt Meisel und Gerhard Menzel scheint mir auch, dass Meisel, der vor seiner Filmkarriere bereits einige Jahre Berufserfahrung als Theaterschauspieler sammeln und dem Theater Zeit seines Lebens verbunden bleiben sollte (unter anderem wurde er in späteren Jahren Oberspielleiter und Intendant in München) für Verspieltes Leben (als einzigen seiner Filme) unter dem Pseudonym Gerd Ammeis auch als Drehbuchautor gelistet wird, während Menzel sich 1944 mit Ein Blick zurück für Willi Forsts Berliner Abteilung seiner Produktionsgesellschaft auch einmal als Regisseur versucht hatte. Was auch immer man dem Film vorhalten mag – die Inszenierung und die Dialoge sind in ihrer spezifischen Art von selten gesehener Perfektion und Inspiration getragen und die Schauspieler durch die Bank exzellent besetzt. Den dritten Drehbuchcredit hat mit Axel von Ambesser dann auch einer der tragenden Darsteller inne, der bis dato nach dem zweiten Weltkrieg lediglich in Wolfgang Staudtes Die seltsamen Abenteur des Herrn Fridolin B. (1948) – einem mäßigen Remake von Staudtes eigenem Der Mann, dem man den Namen stahl (1945) – aufgetreten war (und für den er 1944 ebenfalls die Hauptrolle im wesentlich später uraufgeführtem Das Mädchen Juanita übernommen hatte), aber ab den 50ern dann neben einer wieder erfolgreichen Schauspielkarriere auch vielfach selbst als Regisseur (und teilweise als Drehbuchautor) im westdeutschen Film in Erscheinung treten sollte. Produziert wurde Verspieltes Leben übrigens von der von Helmut Käutner mitgegründeten, aber leider nur kurzlebigen Camera-Filmproduktion GmbH, die mit Käutners In jenen Tagen (1947) einen der prominentesten Trümmerfilme hervorbrachte, um daraufhin vor allem die ersten Filme von Rudolf Jugert zu finanzieren.
Verspieltes Leben ergäbe kombiniert mit Johannes Schaafs Trotta (1971) – einem Film der den Wandel der Zeiten zwischen den 1910er und 1920er Jahren in Deutschland ebenfalls über eine privilegierte Figur beobachten lässt – aufgrund der Kontraste zweier unheimlich verwandter, aber in ihrem Temperament auch sehr unterschiedlicher filmischer Versuchsanordnungen, sicher ein interessantes Doppelprogramm. Vor allem Angesichts der Tatsache, dass beide Filme genauso viel über ihre Entstehungszeit zu erzählen vermögen, wie über die vergangenen Jahrzehnte, in denen sie angeblich spielen. Angeblich deshalb, weil vor allem Meisels ungefähr zwischen 1914 und 1933 angesiedeltes Melodram meiner Wahrnehmung nach problemlos auch als eine Reflexion über die Zeit von 1933 bis 1949 betrachtet werden kann.
Verspieltes Leben – BRD 1949 – 85 Minuten – Regie: Kurt Meisel – Produktion: Joachim Matthes – Drehbuch: Gerhard Menzel, Kurt Meisel, Axel von Ambesser – Kamera: Konstantin Tschet – Schnitt: Adolf Schlyßleder – Musik: Mark Lothar – Darsteller: Brigitte Horney, Axel von Ambesser, Kurt Meisel, Edith Schultze-Westrum, Kurt Waitzmann, Erich Ponto, Hans Quest, Paul Hoffmann, Rolf Moebius, Fritz Reiff
Foto: Deutsches Filminstitut – DIF e.V.
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