Aktuell im Kino – Das Hofbauer-Kommando empfiehlt:
Vor etwas mehr als einem Monat sonderte HK-Gründungsmitglied Christoph bereits einige reißerische Spekulationen ab über das Schaffen des italienischen Schauspielers und Filmemachers Michele Placido und dessen neuen Film ENGEL DES BÖSEN. Das mit Spannung erwartete Gangster-Biopic läuft seit nunmehr zwei Wochen erfolglos in den deutschen Kinos. Wir wir meinen, ein betrüblicher Zustand, besteht in diesen zarten Tagen doch nur noch selten die Möglichkeit, italienisches Genrekino auf deutschen Kinoleinwänden zu erleben. Die Qualitäten, die uns zu dieser Empfehlung veranlassen, liegen allerdings weniger in der Herkunft des Films begründet und wir möchten im Folgenden in die Tiefen, in denen diese Qualitäten zu finden sind, hinabstechen.
ENGEL DES BÖSEN arbeitet sich ohne größere Kraftanstrengungen und dem Vernehmen nach sehr frei an der kriminellen, weniger denn der privaten, Laufbahn des italienischen Bankräubers Renato Vallanzasca (ausdruckslos und mit sexy Charisma verkörperlicht von Ex-Mädchenschwarm Kim Rossi Stuart), beginnend im Jahr 1972 an einem Punkt, an dem Vallanzasca sich bereits in der Mailänder Gauner-Szene etabliert hatte, wodurch sich ein lästiges Vorspiel erübrigt. Furios werden wir sofort mit dem frisch-frech-frei-fröhlichen Credo unseres unwiderstehlichen Helden vertraut gemacht: Über spritzigen Bildern von Gefängniswärtern, die den bis auf die Unterhose nackten Vallanzasca in der Zelle mit Gummiknüppeln bearbeiten, verrät er uns mit markiger Lakonie aus dem Off: „Manche Menschen werden geboren, um Wärter zu sein. Andere werden geboren, um Verbrecher zu sein. So wie ich.“
Vorspanntitel, Schrifttafel mit Datum und Ort, dufte E-Gitarrenriffs – und mitten rein in die dekadente Unterwelt! Dort locken bekanntlich nicht nur die (auch fotografisch) schillernden monetären Reize, sondern auch die prallen Möpse der von diversen italienischen Starlets verkörperten Edelnutten, die es zu bezwingen gilt. Und so darf Vallanzasca als erste Amtshandlung nach der Entlassung aus dem Bußetempel sofort die begehrteste Sexbombe in seinem Lieblingsclub flachlegen. Oder vielmehr: Es versuchen. Es offenbart sich jedoch, dass die Dame ihre Dienste vergütet wissen möchte, was ihn zu der Bemerkung „Ach, hau doch ab, du gehst mir auf die Nerven“ veranlasst und zurück zur Tür treibt. So lapidar möchte die rassige Schöne jedoch ihre Gelegenheit, die Einbrecher-Prominenz in spe zu reiten, dann doch nicht verstreichen lassen und ruft Vallanzasca schnurstracks zurück, um ihn doch noch ranzulassen und ihm, weil’s so schön war, auch gleich noch einen Zuhälterposten anzubieten. Dazu noch mehr röhrende E-Gitarrenriffs, um keine Zweifel daran zu lassen, dass man mittels Szenen wie dieser die unzweifelhafte Coolness und diabolische Verführungskraft des bösen Buben zementiert hat.
Dieser sleazige Auftakt sei hier in erster Linie geschildert, um dem werten Leser einen Eindruck von der dezidiert exploitativen Grundstimmung des Films zu vermitteln, die er in dieser Art über seine gesamten 130 Minuten (exklusive Abspann) aushält, ohne jemals der Gefahr der Psychologisierung, Reflexion oder Differenzierung anheim zu fallen.
Obwohl Placido dabei bedauerlicherweise auf der Bild- und Tonebene so rein gar nichts von den Genretraditionen wissen möchte, die zu Vallanzascas besten Zeiten von Regisseuren wie Fernando di Leo, Mario Caiano, Umberto Lenzi, Stelvio Massi, oder Mario Bianchi (der übrigens 1977 mit LA BANDA VALLANZASCA eine eigene Bearbeitung des Mythos schuf, mutmaßlich eine besonders sleazevolle) zementiert wurden, reiht er sich mit den kumpeligen Schulterschlägen und augenzwinkernden Rippenstößen, die er mit „seinem“ Renato Vallanzasca austauscht, ein in eine andere, noch weit ausgestorbenere italienische Filmtradition: Nicht die des Gangsterfilms sondern des niederträchtigen Schmieren-Reports, der mit rotunterlaufenen, wässrigen Augen nach der Triebhaftigkeit der Welt jenseits der Kinoleinwand schielt.
In stämmigen, potenzprotzigen Bildern, die dem neuen, amerikanisch inspirierten und garantiert unromantischen italienischen Kinohochglanz frönen, bis es wehtut, darf Placidos Vallanzasca also zwei Stunden lang den Ultraspaß haben. Spaß für große Jungs, denen in ihrer brustbehaarten, hahnenbekammten Welt keine femininen oder altersschlaffen Störfaktoren begegnen: Wohlgeformte Superfrauen mit nur einem Mundwinkel rumkriegen, ganz schnell Auto- und dabei alles kaputtfahren, mit Waffen spielen und reuelos auf alles ballern, was nicht bei 3 auf dem Baum ist, dufte Sprüche knallen, seine geliebte Mamma vor Verleumdungen verteidigen, enge Männerfreundschaften knüpfen und zerbrechen sehen, sich mit den bloßen Händen an Kameradenschweinen rächen, sich viel zu spät in der Geschichte in die Gangsterbraut mit dem goldenen Herzen verlieben, im Gefängnis bergeweise Fanpost von „perversen italienischen Hausfrauen“ lesen und in der letzten Szene des Films zeigen, was für ein Goldkerl er eigentlich ist, indem er einem stotternden, jugendlichen Polizeibeamten statt seiner Kanone lächelnd die Hände hinhält. Alles mit ganz viel groovigen, duften E-Gitarrenriffs und ganz viel stylischen Closeups von Whiskey, der in glitzernde Gläser plätschert, Coke-Lines auf schnieken Glastischplatten, blutverschmierten und zersplitterten Windschutzscheiben.
„Manche Menschen werden geboren, um Verbrecher zu sein. So wie ich“.
Das darf Kim Rossi Stuart dann am Ende gleich nochmal sagen.
Am Ende des Tages, respektive des Films, werden Sie, liebe Zuschauer, sich mit einer quälenden Frage – ganz im Geiste des großen Ernst Hofbauer, auch bekannt als „Ernst des Lebens“: Nur der Schmerz führt zur Wahrheit! – konfrontiert sehen: Haben Sie soeben einen der selbstvergessensten und abstoßendsten „A-Class“-Schundfilme der letzten Jahre gesehen, der auf liederlichste und spekulativste Weise die reaktionärsten Italien-Klischees füttert und sich schamlos in Bilderbuch-Misogynie, rüdem Macho-Pathos und gewaltverherrlichendem Bilderzirkus suhlt, dabei weder für den gesellschaftlichen Kontext noch für die Motivationen hinter den Verbrechen interessiert? Oder haben Sie etwa ein perfides satirisches Werk eines nationalkritischen, linksgerichteten Künstlers gesehen, eines Künstlers, der mit Politfilmern wie Rosi, Damiani, Monicelli, Montaldo und Bellocchio gedreht hat und dessen böser Witz in diesem Film mit dem subtextuellen Kernsatz „Die Italiener sind so blöd, dass sie immer den größten Arschlöchern und Egomanen verfallen“ gipfelt, eine radikale Entsprechung findet in einem vermeintlichen „Jungensfilm“ und einer erzählerischen wie ästhetischen Generalprobe für das vielleicht eines schnöden Tages am Cine-Horizont aufziehende monumentale Berlusconi-Biopic von Meisterkitscher Giuseppe Tornatore?
Wer weiß. Das cinephile Mysterium Michele Placido bleibt so ephemer und kryptisch wie eh und je, eingehüllt in einen Schleier aus Zeitungspapier und Bartstoppeln.
Die geschilderten Rezeptionsmöglichkeiten hingegen erzeugen eine der „E-Dreifaltigkeit des Hosen-Platzens“ (Erregung, Erheiterung und Empörung) sehr zuträgliche cine-moralische Ambivalenz, die sicherlich die belobigende Anerkennung und brüderliche Wertschätzung unseres seligen Namenspatron gefunden hätte. Obwohl wir ENGEL DES BÖSEN insgesamt als einen eher kalten, frigiden und leblosen Film empfunden haben, dem die infernalische Wärme und heimelige Schmierigkeit eines Ernst Hofbauer-Films abgeht, sind wir mehr als nur versucht, Placidos vielfältig geschmacklosem Hoden-Pingpong das begehrte Prädikat „Besonders sleazevoll“ zu verleihen, wundern uns, warum Komparse Moritz Bleibtreu auf dem Plakat genannt wird und freuen uns über Placidos Bruder und Schmuddelfilm-Urgestein Gerardo Amato (BLUE NUDE, THE RED MONKS, DANGEROUS LOVE – LUST UND BEGIERDE) in einer Nebenrolle als Vallanzasca senior.
VALLANZASCA – GLI ANGELI DEL MALE – Italien 2010 – 129 Minuten – Farbe / Scope
Seit dem 24. 02. im Kino!
Regie und Dialoge: Michele Placido, Kim Rossi Stuart – Drehbuch: Antonella D’Agostino, Andrea Leanza, Antonio Leotti, Michele Placido, Kim Rossi Stuart, Toni Trupia – Nach einem Treatment von Andrea Purgatori und Angelo Pasquini und der Autobiographie „Il fiore del male“ von Renato Vallanzasca und Carlo Bonini – Produktion: Elide Melli – Kamera: Arnaldo Catinari – Schnitt: Consuelo Catucci – Musik: Negramaro, Davide Cavuti
Darsteller: Kim Rossi Stuart, Filippo Timi, Francesco Scianna, Gaetano Bruno, Nicola Acunzo, Paz Vega, Moritz Bleibtreu, Valeria Solarino, Stefano Chiodaroli, Paolo Mazzarelli, Lino Guanciale u. a.
Bild © 20th Century Fox
Deine feuchten, warmen Worte (btw: „infernalische Wärme und heimelige Schmierigkeit eines Ernst-Hofbauer-Films“, super! Oder „Respekt, Respekt, Respekt!“, wie man anerkennend auf die Schulter stoß-klopfend in SOUL KITCHEN sagen würde…) machen dann trotz der durchschimmernden Ambivalenz ob des eher kalt-glatten Erscheinungsbildes des Films durchaus Lust, ihn doch noch zu schauen, aber leider bietet sich bereits in der dritten Spielwoche praktisch keine Gelegenheit mehr, so brachial ist er gefloppt. Wobei es schon sein kann, dass dein Text im Endeffekt mehr Spaß macht als der Film, aber angefixt hast du mich jetzt dennoch. Am besten ist aber das Bild, das sich in seiner Schmieren-Report-Anmutung verblüffend umstandslos in die Traditionslinie der Hofbauer-Kommando-Beiträge einreiht und wahrhaftig ein wunderbar sluzzy Flair verbreitet! 😉
PS: Wie ich gerade sehe, hatte der Film einen rekordverdächtig hundsmiserablen Kopienschnitt von 20 (!) Zuschauern am Startwochenende, derart wenig hatte glaube ich noch nicht mal der völlig gegen die Wand gefahrene „Max Schmeling“. Zukünftige nicht-englischsprachige Genrefilme werden es nun wohl wieder umso schwerer haben, überhaupt erstmal in deutschen Lichtspielhäusern aufzutauchen.