Fugen aus verbogenen Pfeifen – Marquis de Sade’s Justine (1969)

    Wir sind nichts anderes als im Zustand des virtuellen Furzes. Der Begriff der Realität wird uns gegeben durch einen bestimmten Zustand der Unterleibskonzentration des Windes, der noch nicht losgelassen wurde. [1]

Unter Konvertierten hin zum Glauben an Jesús Franco, den wohl ausschweifendsten Esoteriker des internationalen Kinos, hat sich längst ein Blick kultiviert, der die größte auteuristische Eigenheit zuverlässig und nicht zu Unrecht in den randständigsten Produktionen ausmacht. Vermehrte Auftrags- wie Prestigearbeiten, die Franco besonders in den ausgehenden 60er Jahren für den umtriebigen Briten Harry Alan Towers inszenierte, hingegen genießen eher bei klassizistisch Herüberlugenden einen guten Ruf. Wohlbudgetiert, etablierten Regeln seriöser Filmkunst folgend, die Franco anderwärts bereits ausgeschlichen hatte, massenkompatibel, Literaturverfilmungen gar. Einer unter diesen Filmen eint dabei nicht wenige Adepten beider Fraktionen in relativer Abneigung. Dabei gehört er zu den atypischsten in einer an Vor-den-Kopf-Inszenierungen fürwahr nicht armen Regielaufbahn. Nominell sollte „Marquis de Sade’s Justine“ über Jahrzehnte hinweg das budgettechnische Prunktstück dieser Laufbahn bleiben, eine reichhaltige Anrichte verdichteter, parallelisierter Handlungsstränge aus den beiden großen „Erziehungsromanen“ „Justine ou les Malheurs de la vertu“ (1791) und „Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice“ (1797) des Marquis de Sade, seines Zeichens Radikaltriebphilosoph der aufziehenden wie blühenden französischen Revolutionsjahre. Weiterlesen…

Betten, die die Welt bedeuten – Weiße Haut auf schwarzen Schenkeln (1976)

    How I’d like to look into that little book
    The one that has the lock and key
    And know the boy that you care for
    The boy who’s in your diary

    (Neil Sedaka – The Diary)

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Neigungswinkel im Nachtclubdunst – Musikalische Selbstermächtigung und der Einstellungswinkel als Raumvermesser bei Jesús Franco am Beispiel von „Labios rojos“ (1960)

„Labios rojos“, der zweite Langfilm erst des notorisch arbeitswütigen Jazzmusikers wie Filmemachers Jesús Franco und auf den bemerkenswerten Gesamtkarriereumfang gerechnet nicht einmal ein Prozent der Dinge, die da noch kamen, ist dennoch – wie auch sein ein Jahr früher entstandenes Debüt „Tenemos 18 años“, wenngleich im weniger ausladenden Umfange – ein Film, der beispielhaft verdichtet, was sich über mehrere kinematografische Häutungen hinweg wieder und wieder in neu wie anders gedachter Form herausschälen sollte. Musik, konkreter – und in Abgrenzung zu mit der Wirkung dezidiert und selbst im Universum des Filmes nicht selten bereits eingefangenen Aufnahmen erzählenden Musikliebenden wie Roberta Findlay oder Eckhart Schmidt – der Akt des Musizierens an sich, die Performance, auch das Improvisieren über melodische Grundrisse. Dazu das Spiel mit der Architektur des Filmischen selbst, die Grenzüberschreitung des guten Konstruktionsgeschmackes, deren Extravaganzen die Figuren prägen und von diesen zurückgeprägt werden. Weiterlesen…

Remembrances floating between two dates – Walter E. Sear (1930 – 2010)

Walter E. Sear in „Lurkers“ (Roberta Findlay, 1988)

    To the eternal love of Walter E. Sear and Roberta Findlay

Between the the 27th and 29th of April 2020 the footprint Walter E. Sear left in the world of music, filmmaking but more than that human interaction lingers on especially dominant before gradually retreating again to where all things now unliving and carried on by fond memories alone reside. For today is stuck precisely between what would have been his 90th birthday and what will be the 10th anniversary, the first real milestone, the harshest one for most bereaved, of his passing. Sear, a New Yorker since practically ever, his family moved to Queens when he was only one year old, and forever, was a pioneering recording engineer and tinkerer on all things emitting peculiar sounds, a musician and composer, he produced films, wrote, scored, directed and sold them as successfully as he sold instruments. And that’s only half it, a person like him can only ever be measured in half truths and thinly veiled wonder. He was a true powerhouse of creative thought. Thought that must have connected him easily and even in fleeting everyday passing to another powerhouse of imaginative ventures when they first ran past each other in the decidedly non-romantic offices their different yet closely entwined lines of work made them frequent. Walter E. Sear and Roberta Findlay met in 1976, petty circumstances, while visiting a fellow yet inconsequential for theirs connection and they grew inseparable soon after. Weiterlesen…

Contortions of a mind in perpetual decline – Portraits of Andrea Palmer (2018)

„Portraits of Andrea Palmer“, the first feature film for both and directed in conjunction by a certain „C. Huston“ and film preservationist collective Vinegar Syndrome’s Joe Rubin (billed under his film board nom de guerre „J[ohn]. Lyons“), is in many ways an unusual venture – when measured against its date of production, even a deeply anachronistic one. For it is not merely a superficial hommage to the long-gone Golden Age of Porn that raged in American cinemas for some approximately 15 years from the very late 60’s to the mid-80’s, elicits it’s filmic (as in analogue filmmaking, granularity and a color cast unique to employed – 16mm here – stock) as well as organisitional (as in centered around, not working with unsimulated renditions of intercourse) structure, shares it’s curious interest in gloomy subject matter coupled with precise gaugings of female suffering, but actually possesses a profound understanding of it’s highly specific employment of filmed sex like few, if any, modern efforts. Weiterlesen…

Die Stadt in 52 Minuten: Il tram (1973)

    Gebären, Tod, gewirktes Einerlei,
    Lallen der Wehen, langer Sterbeschrei,
    Im blinden Wechsel geht es dumpf vorbei.

    (Georg Heym – Die Stadt)

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In den Randbezirken der Lohnarbeit – The Bowler and the Bunnet (1967)

    New system, patent coupling, no welding, two boats and a sealing ring. Annual saving: 4.000 pounds.
    Well, that should appeal to the Scot in everyone.

    (Sean Connery lockert eine Präsentation auf)

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Von der schlummernden Mauer – Freddy und die Melodie der Nacht (1960)

    So geh ich allein und frage mich:
    Gibt’s ein Herz, das mich vermisst?
    Und wo ist der Mensch, der zu mir hält
    der genau wie ich, einsam ist?

    (Freddy Quinn – Melodie der Nacht)

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Belohnte Tugend


In Venedig traf ich einmal im Kinema einen Engländer. Er sass neben mir, und aus der Art, wie er sich hatte, merkte ich, dass auch er ein Afficionado war, so gut wie ich. So sprach ich ihn an, und wir plauderten zusammen. Dann kam ein Rollfilm, der den schönen Namen führte: “Belohnte Tugend“, da winkte er mir zu schweigen. Und er sah dieses Stück nicht -, er trank es mit seiner ganzen Seele. Es war eine etwas larmoyante Sache, die im Bois spielte; eine junge, sehr hübsche Schauspielerin vom Odéon spielte darin. Und dann sagte mir der Engländer, dass er in diese Frau verliebt wäre. Er reise nun schon seit fünf Wochen diesem Rollfilm nach, den er zuerst in Turin gesehen habe, er verfolge ihn durch alle italienischen Städte. Am Ende einer jeden Woche erkundige er sich bei dem Kinemabesitzer, wohin der betreffende Film nun gesandt würde – und dahin reiste er. Ich fragte ihn, warum er dann nicht lieber versuche, das Original kennen zu lernen, er brauche ja nur nach Paris zu reisen und sich nach der Adresse der jungen Dame zu erkundigen, so könne er in spätestens drei Tagen seiner Angebeteten zu Füssen liegen. Doch er schüttelte den Kopf – nein, nein, er liebe das Bild und nicht die Frau. – Vor einigen Wochen jedoch schrieb er mir von seinem Landhause in Devonshire einen überaus glücklichen Brief: er hatte sich einen Kinematograph gekauft und einen einzigen Rollfilm dazu: “Belohnte Tugend“. Nun kann er, wenn er nur will, mit seiner Geliebten allein sein, mit ihr träumen im Dunkeln.

Auszug aus: Hanns Heinz Ewers: Vom Kinema.
zuerst erschienen in: Der Kinematograph (Düsseldorf), Nr. 159, 12.01.1910

The First Time (1978) or: How to separate sex from sex with Anthony Spinelli

Have you ever pondered about the question of how a film centered around authentic, thus outwardly far more equable renditions of intercourse can manage to tell encounter from encounter, to dinstinguish the metaphysical weight being thrown around so freely? Anthony Spinelli’s „The First Time“, the prolific director’s final offering in a longstanding streak of outré, highly avantgarde films preceding his second coming as careful constructor of more narratively inclined fare, seems to have been constructed entirely around this very idea and adds the further challenge of answering without ever sacrificing its carelessly understated tone. Weiterlesen…