Fugen aus verbogenen Pfeifen – Marquis de Sade’s Justine (1969)

    Wir sind nichts anderes als im Zustand des virtuellen Furzes. Der Begriff der Realität wird uns gegeben durch einen bestimmten Zustand der Unterleibskonzentration des Windes, der noch nicht losgelassen wurde. [1]

Unter Konvertierten hin zum Glauben an Jesús Franco, den wohl ausschweifendsten Esoteriker des internationalen Kinos, hat sich längst ein Blick kultiviert, der die größte auteuristische Eigenheit zuverlässig und nicht zu Unrecht in den randständigsten Produktionen ausmacht. Vermehrte Auftrags- wie Prestigearbeiten, die Franco besonders in den ausgehenden 60er Jahren für den umtriebigen Briten Harry Alan Towers inszenierte, hingegen genießen eher bei klassizistisch Herüberlugenden einen guten Ruf. Wohlbudgetiert, etablierten Regeln seriöser Filmkunst folgend, die Franco anderwärts bereits ausgeschlichen hatte, massenkompatibel, Literaturverfilmungen gar. Einer unter diesen Filmen eint dabei nicht wenige Adepten beider Fraktionen in relativer Abneigung. Dabei gehört er zu den atypischsten in einer an Vor-den-Kopf-Inszenierungen fürwahr nicht armen Regielaufbahn. Nominell sollte „Marquis de Sade’s Justine“ über Jahrzehnte hinweg das budgettechnische Prunktstück dieser Laufbahn bleiben, eine reichhaltige Anrichte verdichteter, parallelisierter Handlungsstränge aus den beiden großen „Erziehungsromanen“ „Justine ou les Malheurs de la vertu“ (1791) und „Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice“ (1797) des Marquis de Sade, seines Zeichens Radikaltriebphilosoph der aufziehenden wie blühenden französischen Revolutionsjahre. Weiterlesen…

Schienen nach Irgendwo – Kris (1946)

    Melancholie ist das falsche Wort
    Für all das, was man nicht sagen will und kann
    Man will nicht zurück
    Und doch sehnt man sich dorthin
    Wohin man nicht mehr gehen kann

    (Mutter – Böckhstr. 26)

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Zeitnah gesehen: Der goldene Handschuh (2019)

Kasperljagd auf St. Pauli

Man kann es diesem Film wahrlich nicht vorhalten – er ist eine grundehrliche Haut, präsentiert bereits in den ersten Einstellungen freimütig, was ihn fortan immerzu plagen wird. Fritz Honka (Jonas Dassler) säuft und mordet in seinen beschaulichen vier Wänden, eingepflanzt wie lediglich halb vom Gewebe angenommen inmitten der kulissenhaften Raumgestaltung einer beliebigen Bühneninszenierung. Das ist es, was Fatih Akins in der Essenz stets bleibt – abgefilmtes Theater, dem zu den Möglichkeiten einer Kinokamera zuverlässig bloß Halbtotalen und Nahaufnahmen mit abgespreiztem Finger einfallen, manchmal ein wenig näher, dann ein wenig weiter in der Ferne, von der Freddy Quinn vom Plattenteller aus singt. Weitestgehend zentriert auf oder knapp unterhalb der Augenhöhe vor den Tristtischen, von denen der Frühstückskorn gleich als veritabler Wasserfall strömt. Ein wenig erinnert das an Peter Steiners Theaterstadl, den ich als junger Bub so genoß – keine schöner Erinnerung, denn nicht einmal die wenigen, rein ausschnittsweise das Räumliche durchziehenden Schwenks schaffen Filmisches, folgen allein den Figuren auf ihren Wegen von einem Schnapsschrank zum nächsten. Weiterlesen…