Endless Night (1972)
– Vorwort –
Ich veröffentliche diesen Text in erster Linie, um zu illustrieren, wie glücklich es sich eigentlich doch trifft, dass man in der Regel doch nur verhältnismäßig selten die Romanvorlagen von Literaturverfilmungen gelesen hat und wieviele Bretter vor dem Kopf die schiere Unmenge an Romanen und ihren Verfilmungen einem kosten- und energielos erspart. Als Filmkritik ein Desaster, als Exempel aber unter Umständen brauchbar.
ENDLESS NIGHT (zu deutsch nichtssagend, aber in der langen Tradition der langweiligen deutschen Betitelung doppeldeutiger, poetischer oder mysteriöser Christie-Titel stehend „Mord nach Maß“ betitelt) war 1967 das überraschende literarische Comeback von Agatha Christie, gefeiert für seinen gewagten und frischen Stil. Die grande Dame der britischen Kriminalliteratur hatte sich zuletzt mit ihren Romanen A CARRIBEAN AFFAIR und BERTRAM’S HOTEL nur routiniert ihrer bewährten Miss Marple gewidmet – und mit dem 1966 veröffentlichten THIRD GIRL einige ihr neue Kritik geerntet. Schon in ihren Romanen während der 50iger Jahre verarbeitete Christie, Jahrgang 1890, ihr Befremden über die sich wandelnden Zeiten, insbesondere über die „moderne Jugend“ und ihr Versuch, in letzterem Roman die „Swingin‘ Sixties“ zu begreifen – oder auch nur ihre Impressionen selbiger wiederzugeben – erschien vielen Lesern und Kritikern eher grotesk, teilweise peinlich, als mutig. Christie reagierte trotzig – zumindest scheint es heute so – mit einem ihrer abgründigsten und verstörendsten Romane und zielte direkt ins Schwarze, mehr als in irgendeinem ihrer früheren, thematisch entsprechenden Bücher.
„Michael Rogers dreamt of a perfectly designed house and a rich, beautiful wife. He found the girl and he built the house – but he built it at ‚Gipsy’s Acre‘, a place with a curse on it where sudden death had struck more than once…“ (Klappentext des Romans)
Christie schrieb diese Geschichte in erster Person – und versuchte damit, sich als 77jähriges, weibliches Relikt aus einer anderen Ära, in einen jungen Mann von „heute“ einzufühlen. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Kritiker ihr danach bescheinigten, sich selbst neu erfunden zu haben. In einem ihrer letzten Romane hatte Christie diesen erstaunlichen Drahtseilakt gerade überzeugend genug absolviert um dem mit Horrorelementen versetzten Roman eine nachhaltig verstörende Wirkung zu sichern. Heute spürt man beim Lesen hinter manchen Passagen doch die gerunzelte Stirn, das Rümpfen der Nase und das leicht pikierte Winden bei der stellenweise unausweichlichen Verwendung des Wortes „Sex“. Aber trotzdem: Der Roman funktioniert hervorragend, ganz unabhängig von Christies Persönlichkeit und dem Kontext ihres umfangreichen Werkes. Und er funktioniert als düsteres Drama eines sinnbildlichen Abstiegs in die Hölle sehr viel besser denn als Thriller oder Kriminalroman. Christies Verleger William Collins überredete seine Erfolgsautorin schließlich sogar, einige der Nebencharaktere besser auszuarbeiten um die Semi-Auflösung am Ende effektvoller wirken zu lassen und mehr „Thrill“ in den Roman zu bringen.
Sidney Gilliats, von Christie kühl aufgenommene Verfilmung, eliminiert diese Verschleierung – und noch einiges mehr. Es erscheint dem Leser der Romanvorlage unmöglich, das psychologische Gefüge der Handlung zu begreifen, ohne mit selbigem nach der Lektüre vertraut zu sein. Die hastige Konstruktion der Beziehung zwischen Michael und Ellie kann als Beispiel dafür herhalten, wie der Film die als Vorlage für einen Psychothriller eindeutig sperrige Erzählung in das Korsett eines Genrefilms zu pressen versucht. Auch das Buch nimmt die Zeitspanne zwischen Ellies und Michaels erstem Treffen mit links, doch die Konstruktion ist geschickt und mit eben jenen Details versehen, die der Film auslässt – auslassen muss. Der Reiz der gutsituierten Dekadenz auf die Unterschicht und umgekehrt die abenteuerliche Anziehungskraft der rauhen Überlebenskünstler am Rande der Gesellschaft auf das wohlbehütete Mädchen aus reicher Familie, diese beiden dezent klischeeisierten Pfeiler, werden im Roman auf virtuose Weise als treibende Kraft in Ellies und Michaels Beziehung ausgestellt. Der Film umgeht sie mit der gleichen Vorsicht, mit der Christie versuchte, ihrem eigenen Klischee vom Klassen-Snobismus zu entgehen. Doch Gilliat will diese Elemente nicht, weil sie Produkt von Christies Perspektive sind. Eine Perspektive, die in einem effektvollen Unterhaltungsfilm für ein modernes Publikum 1971 eher unbequem denn entspannend ist, wenn man so will. Folglich entfällt einer der roten Fäden, der das moralische, oder eher: assoziative Gerüste der Handlung zusammenhält. Der Dreh- und Angelpunkt, die eigentümliche Beziehung zwischen Michael und Ellie, verliert an Glaubwürdigkeit und wirkt nun tatsächlich wie ein Konstrukt, erschaffen als Aufhänger, eher denn als Auslöser.
Dabei scheint Gilliat, der den Roman selbst adaptierte, das Potential seiner Vorlage sehr wohl erfasst zu haben. Szenen wie die Gartenparty der Philpotts, auf der Michael sich von Ellies gierigen Verwandten umzingelt fühlt, Michaels finaler Wutausbruch und vor allem die zentrale und tragisch-enigmatische Figur des gebrochenen Architekten Santonix die hier wie im Buch als Indikator und Prophet von Michaels emotionaler Verfassung fungiert, sind hervorragend getroffen. Die Besetzung Santonix‘ mit dem charismatischen schwedischen Schauspieler Per Oscarsson („Traumstadt“) erweist sich überhaupt als treffsicherster Punkt der Besetzung die ansonsten unter anderem den gegenüber der Vorlage, die auch den amerikanisch-britischen Clash zeichnet, unverzeihlichen Fehler begeht, eine amerikanische Hight Society-Familie komplett mit britischen Darstellern inklusive Akzenten zu besetzen. Dennoch: Der Geist ist da, die Stimmung ist da und es ist völlig belanglos das von Christies raffinierten und dennoch realistischen Dialogen nicht viel geblieben ist in Gilliats Drehbuch. Überhaupt fiele es soviel leichter, den Film in Frieden zu lassen, würde er freier und gelöster mit seiner Vorlage hantieren. Das sture Beharren auf Christies Plot ist völlig hoffnungslos, ist er doch bei aller Schlichtheit und der begrenzten Anzahl von Charakteren zu kurvenreich für rasende 100 Minuten Laufzeit. Es ist auch in diesem seinem letzten Film (bevor er 1972 den Freitod wählte) wie immer ein Vergnügen, den grossen George Sanders zu erleben, doch der von ihm verkörperte Uncle Andrew ist ein Charakter, der aufgrund der Straffungen der Adaption redundant wird und die Funktion eines „red herrings“ zugewiesen bekommt. In der Vorlage ist er der hintergründige, stoische Vorbote des gesellschaftlichen Konfliktes, den Michael zusammen mit Ellie geheiratet hat. Als Auslöser füer den finalen Plottwist wäre er hier jedenfalls nicht mehr erforderlich gewesen. Und überhaupt: Die atmosphärische Seite des Romans.
Auch im Film hören wir Michael aus dem Off erzählen, aber es ist nicht er, der seine Geschichte erzählt. Und trotz des effektvollen Ausverkaufs, den Gilliat streckenweise unverhohlen betreibt – wir bekommen unter anderem Michaels Erinnerung an den schicksalhaften Unfall seines Schulkameraden als grellen Flashback serviert – gelingt es ihm nicht, das einzufangen, was Christies Roman seine Nachdrücklichkeit verlieh – jene finstere Ahnung von Unheil, das Gefühl eines aufziehenden Sturms, der die zerrissenen Kleider der alten Zigeunerin im Wind flattern lässt, als sie Michael und Ellie ihr Unglück prophezeit, der lange Zeit unerklärliche fatalistische, morbide Tonfall, in dem uns Michael seine Geschichte erzählt und der durch den gesamten Verlauf für Unwohlsein beim Leser sorgt, das sich im Finale in Wahnsinn entlädt. All diese Eindrücke fehlen im Film und lassen den Roman paradoxerweise wesentlich näher am von Christie verachteten Horrorgenre erscheinen denn den Film, der sich weidlich, aber erfolglos darum bemüht, die dramatischen Momente der beinahe meditativen Erzählung auszukosten. Es ist unglaublich, wie beiläufig theatralische Momente wie der erste Auftritt von Mrs. Townsend im Film verpuffen.
Doch Gilliat macht zumindest im Finale vorübergehend wett, was er zuvor grobschlächtig umgeworfen hat. Christies, nennen wir es mal konsequenterweise, „altmodisches“ Streben nach Subtilität und Geschmack spielte ihr bei dem finalen Ausbruch des Wahnsinns zwischen Hass, Lust und Verzweiflung ein Schnippchen. Ihre Kritik an der freizügigen Sexszene gegen Ende des Films unterstreicht das sehr treffend. Gerade hier vermisst man im Roman bei allen Beben den konsequenten Schritt ins Leere, ins Chaos und zumindest diesen Effekt lässt sich Gilliat nicht entgehen und trägt schön dick auf, so wie man es sich im übrigen Film mehrmals gewünscht hätte (denn wie wunderbar sich Christies Romane bei Bedarf zum effektvollen Reisser umbauen lassen, zeigt ein Vergleich zwischen der geradezu pedantisch vorlagentreuen 1974er-Verfilmung von MORD IM ORIENTEXPRESS und der sehr freien, grellen, aber im Kern noch kongenialen Cannon-Produktion von RENDEZVOUS MIT EINER LEICHE). Zumal er das unverschämte Glück hatte, mit dem späten Bernard Hermann einen der grössten Filmkomponisten überhaupt verpflichten zu können, einen Spezialisten fürs Metier, dessen Kompositionen zu Hitchcocks MARNIE und VERTIGO einem schon beim Lesen des in seiner Anlage durchaus auch an Hitchcock erinnernden Romans in den Ohren klingen. Doch so kraftvoll Herrmanns Score auch ist, kein Komponist kann vollends kompensieren, was den Bildern fehlt. Es ist einer der emblematischsten Momente des Films, wenn in einem kurzen Flashback Michaels im Gespräch mit Santonix zu Beginn des Films, er sich selbst als Kleinkind sieht, verständnislos und ängstlich einem wütenden Streit seiner Eltern folgend. Trocken zupfende Streicher illustrieren diesen merkwürdigen, karikativen Einschub, der als eines der letzten Überbleibsel des Roman-Michaels dem Film-Michael kurz durch den Kopf schiesst bevor Gilliat von dem maskulinen, selbstbewussten, unbeirrbaren und sexuell offensiven Michael des Romans zurück auf seinen, von Hywell Benett souverän gespielten, sich aber im Gefüge dysfunktional ausnehmenden, von vornherein dämonisch wirkenden, bubenhaften und linkischen Michael zurückfällt. Diesem Michael ist die Bodenständigkeit der Romanfigur völlig abhanden gekommen und in dessen Engelsgesicht ist schon zu Beginn das Ungleichgewicht sichtbar, dass ihn im Roman erst so spät ereilt. Der Effekt am Ende des Films bleibt aus, weil der Charakter Michael nicht interpretiert sondern ummodelliert worden ist – ohne das man sich dabei die Mühe gemacht hätte, das Konstrukt der Handlungen um ihn herum an das neue Modell anzupassen. Konsequenterweise kann der Film sich nicht mit dem unheimlichen, impliziten Ende des Romans zufrieden geben und muss einen PSYCHO-artigen Epilog anhängen, aus dem ein letzter Knalleffekt geschunden wird, eine terrorerfüllte Schlussmontage, mit der Herrmann-Musik als Duschmordszenen-Ersatz perfekt. Bezeichnend.
Anmerkung: Sidney Gilliat war im übrigen, wie ich inzwischen herausgefunden habe, zum Zeitpunkt von ENDLESS NIGHT, bereits ein alter Veteran des britischen Mainstreamkinos, zu dessen grössten Erfolgen die berühmte Reihe um das Mädcheninternat ST. TRINIANS zählte und ehrenwertesten Credits eine Drehbuchmitarbeit an Hitchcocks THE LADY VANISHES. In diesem Fall könnte man darüber sinnieren, inwiefern sich nicht vielleicht Gilliat, dessen letzter Spielfilm „Endless Night“ blieb, noch weitaus stärker in seiner langjährigen Routine festgefahren hat als Christie – die merkwürdige Blut- und Leblosigkeit der Inszenierung über weite Strecken erscheint vor diesem Hintergrund jedenfalls in einem ganz neuen Licht.
– Nachwort –
Etwa nach der Hälfte dieses Textes bemerkte ich, dass ich nicht über den Film schrieb sondern den Roman, mit dem ich ihn immer und immer wieder direkt und ohne den so unerlässlichen Umweg der Abstraktion verglich. Allerdings habe ich ihn aus oben angeführten Gründen nicht in meinem an für unzureichend befundenen Texten reichen Giftschrank verschwinden lassen. Wie die ideale Filmkritik einer Literaturverfilmung aussieht, weiss ich wirklich nicht. Sicherlich aber weder wie obiger Text, noch wie die zahllosen Kritiken, in denen die verlegenen Autoren sich mit einigen hastig recherchierten Verweisen auf eine ihnen nicht bekannte Romanvorlage aus der Affäre ziehen, nur weil sie den Zwang verspüren (und dieser Zwang ist ein Problem und führt so oft zu einer harten Reibung der Kunstformen, die nicht notwendig wäre), der blossen Erwähnung dass es sich um eine Adaption handelt, noch ein Minimum an Hintergrundinformation beizufügen. In dem Gewissen, zuviel derselbigen geben gewollt zu haben, belasse ich es hierbei und hoffe, in Zukunft bei der Sichtung und Besprechung von Literaturverfilmungen, deren Vorlage mir nicht bekannt ist, deren Existenz mit noch mehr Erfolg als bisher zu ignorieren. Und umgekehrt umso mehr.
ENDLESS NIGHT – GB 1972 – Regie und Drehbuch: Sidney Gilliat, nach dem Roman von Agatha Christie – Produktion: Leslie und Sidney Gilliat – Kamera: Harry Waxman – Musik: Bernard Hermann – Schnitt: Thelma Connell – Darsteller: Hywel Bennett (Michael Rodgers), Hayley Mills (Ellie Rodgers), Britt Ekland (Greta Andersson), Per Oscarsson (Santonix), George Sanders (Andrew Lippincott), Aubrey Richards (Dr. Philpott), Peter Bowles (Onkel Reuben), Lois Maxwell (Tante Cora)