100 Deutsche Lieblingsfilme #28: Kalter Frühling (2003)

Am Anfang kommt Jessica Schwarz mit ihrem Auto im Hof ihrer reichen Eltern an, und bereits da wirkt sie deplaziert, sich nicht wirklich einfügend in ihre Umgebung. Man spürt sie kehrt heim: das ist ihr Zuhause. Doch sie gehört dort nicht hin. Sie hat es nur noch nicht bemerkt. Am Ende des Films ist davon nichts mehr da. Sie steht im Garten – nach langer Odyssee zurück gekehrt – es ist ihr Garten, ihr Platz. Aber von Heimat, von Zugehörigkeit ist keine Spur mehr. Wir wissen jetzt: diese Heimat trug sie in ihrem Herzen, sie drückte sie in ihren Gefühlen, ihren Gesten, ihrem Blick aus. Nun ist dies Vergangenheit, denn was die Figur sich zurück erobert hat ist die Realität. Besser gesagt der unverstellte Blick auf sie. Heimat als Illusion, als Geschenk der Naiven. Kalter Frühling ist ein Film über den Zerfall. Über den Verlust der Unschuld. Und über den Verlust des Selbst.

In Kalter Frühling, wie in vielen Filmen von Dominik Graf gibt es die Gegenwart nicht. Es gibt nur Vergangenheit und Zukunft, aus denen sich die Gegenwart als Punkt einer Bewegungsachse für uns als Zuschauer konstruiert. Der gegenwärtige Moment gewinnt also dadurch an Bedeutung, dass es für ihn ein davor und danach gibt, dass er also tatsächlich einzigartig ist. Und das zeigen uns die vielen Szenen in Kalter Frühling immer wieder. Die Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit jedes Augenblicks. Die Vergänglichkeit des Lebens. Da die Vergangenheit wie die Zukunft uns leitet, ist auch nichts je so wie es uns erscheint, sondern nur wie es sich uns ständig erschließt. Aus einzelnen Momenten eben.
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Dominik Graf in „Senses of Cinema“

In der neuen Ausgabe:

Ein unbedingt lesenswertes, wieder einmal faszinierend-stimulierendes und vor allem vorbildlich ausladendes Interview mit unser aller Liebling Dominik Graf, natürlich auf englisch. Natürlich und Glücklicherweise. Vielleicht wird man ihn, irgendwann, eines Tages, auch außerhalb Deutschlands einmal entdecken. Die vereinzelten internationalen Festival-Auftritte seiner letzten Kinofilme (also mehr oder weniger nur DER FELSEN und DER ROTE KAKADU) haben dafür freilich nicht ausgereicht.

Allerdings ist es eigentlich ohnehin utopisch, auf eine Revision des internationalen Bilds vom vor allem aktuelleren deutschen Kino zu hoffen (Bei allem, was älter als 20 Jahre ist, braucht man sich diese Hoffnung ohnehin nicht mehr zu machen). Im Ausland kennt und liebt man zumeist den DOWNFALL und die LIVES OF OTHERS und hält sie für exzentrische Kunstfilme. Kann man auf so eine Revision noch hoffen, wenn die weitläufige Meinung darüber im eigenen Land schon von der Annahme grundsätzlicher Biederkeit, Trocken-,  Blödsinnig-  oder sozialer Selbstmitleidsseeligkeit geprägt ist? Vermutlich werden die meisten Leser der „Senses of Cinema“ mangels Berühungspunkt (wahrscheinlich kann nicht einmal die entfernte Ahnung eines irgendwo einmal aufgeschnappten Filmtitels bei Graf als solcher dienen) über dieses Interview hinweglesen, außer den ganz harten Cinemenschen. Und die können bei Interesse erst einmal auf der Untertitel-Barriere herumkauen. Auf selbige verweist auch Marco Abel, der dieses Interview führte und übersetzte – und hofft, dass sich daran in der Zukunft etwas ändern wird. Da hoffe ich doch gleich mal mit.

100 Deutsche Lieblingsfilme #13: Die Sieger (1994)


Ein Politthriller als Geistergeschichte. Die Figuren sind Schatten in einem unübersichtlichen Geflecht aus Politik, Polizei und organisiertem Verbrechen. Sie treten unvermittelt aus dem Dunkeln ins Bild und verschwinden dort wieder ebenso gleitend, sie sprechen aus dem Off, nachdem die Kamera sie nur flüchtig erhascht hat, flüstern, raunen sich im Vorbeigehen Vertrauliches zu, sind nur verrauschte Stimmen aus Funkgeräten, Telefonen oder von Tonbändern. Ein knallroter Regenmantel…

Es ist Zwischenkriegszeit. Der Kalte Krieg ist vorbei, BRD und DDR sind untergegangen, aber die „Berliner Republik“ hat noch nicht wirklich begonnen. In dieser Übergangsphase hält das organisierte Verbechen Einzug in die Politik, werden hinter Glasscheiben in den Konferenzzimmern die Anteile am neuen Land verkauft. Ein Trümmerfilm aus dem Jahr 1994.

Beschützt werden die Gespenster hinter den Glasscheiben vom SEK. Die Männer sind selbst Phantome, sie tragen Decknamen und Sturmhauben, bei denen nur die Augen als letztes Zeichen von Persönlichkeit hervorblitzen. Die Welt dieser Männer, ihre Rituale, ihr (brüchiger) Zusammenhalt sind wichtiger Teil von DIE SIEGER. Einer von ihnen, Heinz Schaefer ist ein Phantom aus der Vergangenheit – vor vier Jahren soll er sich umgebracht haben, doch Karl Simon erkennt ihn bei einem Einsatz gegen Geldfälscher wieder. Simon und Schaefer arbeiten beide für den Staat und sind doch Gegner in einem Dickicht aus V-Männern und machtpolitischen Grauzonen, sind Gehetzte, Zerrissene. Gesellschaftliches, Berufliches und Privates sind untrennbar, der Riss durch die Männer reicht tief in die Familien.

Oft wird DIE SIEGER als deutscher Actionfilm verkauft, dabei steht er eher in der Tradition der Polizeifilme von Lumet und den Mafiafilmen von Damiani. Doch Deutschland ist nicht Italien – die Mechanismen der Korruption laufen subtiler ab, vielleicht kann man ihnen nur mit Fantasie beikommen. Selten hat Grafs visueller Stil so gut zu einem Sujet gepasst, die unruhigen Kamerafahrten, die hektischen Zooms auf die Figuren, als ob er nach ihnen greifen, ihre Undurchsichtigkeit erfassen wollte. Genre heißt hier im Gegensatz zu vielen deutschen Filmen der 90er auch nicht der Wunsch möglichst amerikanisch auszusehen. Materiell ist der Film tief in der Bundesrepublik verhaftet: den Autobahnen und Raststätten, dem ICE und den Einkaufsmeilen, den Düsseldorfer Reihensiedlungen und den Vorstadtvillen. Hinter dieser materiellen Gegenwart lauern unterirdisch die Gespenster der Vergangenheit, der Terrorismus und sein politischer Mißbrauch. Sehnsüchte werden wach, nach DIE MACHT DES GELDES, dem Film den Graf nach dem Buch von Christoph Fromm über die Herrhausen-Entführung drehen wollte.

Das Ende des Traums vom deutschen Genrekino soll DIE SIEGER gewesen sein. Dass der Film gescheitert ist, darin schienen und scheinen sich fast alle einig zu sein: das Publikum, das ihn mied, die Kritik, die ihn nie bedingungslos liebte und auch Graf selbst – nach vielen Eingriffen ins Drehbuch.

Aber das Schöne am Kino ist, dass die Produktionsgeschichte irgendwann zurücktritt und es kein „hätte, könnte, sollte“ mehr gibt. Und der Film beginnt ein Eigenleben in den Köpfen der Zuschauer zu entwickeln, das weder der Regisseur mit seiner Vision noch die Filmbürokraten mit ihrem Kommerzstreben so vorhersehen können. Es ist wie bei Ciminos HEAVEN’S GATE, wo die Träume zu groß werden fürs Kino, wo nur noch Spuren, Bruchstücke, Ahnungen davon auf dem Zelluloid zurückbleiben. Doch Unvollkommenheit heißt auch immer Unabgeschlossenheit und damit: Offenheit. Eine Einladung mitzuträumen.

Der Traum vom deutschen Genrekino, so viel zu groß er manchmal auch scheinen mag, ist jedenfalls noch lange nicht ausgeträumt.


Die Sieger – Deutschland 1994 – 130 Minuten – Regie: Dominik Graf – Drehbuch: Günter Schütter – Produktion: Günter Rohrbach, Christoph Holch – Kamera: Diethard Prengel – Musik: Dominik Graf, Helmut Spanner, Loy Wesselburg – Darsteller: Herbert Knaup, Katja Flint, Hannes Jaenicke, Heinz Hoenig, Meret Becker, Natalia Wörner, Thomas Schücke.

Screenshots: © Eurovideo

Top 10: 2008

We own the night

Das neue Jahr hat begonnen, und der Januar war voll mit Bestenlisten, Rückblicken und Preisverleihungen. Obwohl davon oft sehr genervt, und von manchem sogar angeekelt, habe ich es mir während der letzten 10 Jahre dennoch zur Tradition werden lassen, nach Ablauf der 12 Monate meine eigene Top 10 zu erstellen. Die Anzahl der Filme, und das Format variiert dabei zwar regelmäßig, aber ein Leitprinzip hat sich inzwischen doch herausgeschält. Obwohl ich meine Liste weiterhin Top 10 nenne, geht es nicht darum die 10 besten Filme des Jahres zu finden. Auch nicht die 10 liebsten. Was in meine Top 10 reinkommt, egal ob sie nun 3 oder 30 Filme umfasst, ist eher etwas, was man schwammig als Lieblingsfilm bezeichnen könnte – also etwas sehr persönliches. Und so lese ich auch alle Jahresendlisten etwas faschistoid, mit der Erwartung möglichst nur auf Persönliches zu stoßen (welche natürlich zum Großteil herb enttäuscht wird). Als Anhänger radikaler Subjektivität langweilt mich das Meiste inzwischen sehr. Trotzdem werde ich in den ganzen Listenbrei wohl auch weiterhin einstimmen, denn im grunde meines Herzens bin ich ein Systematisierer, ein Ordnungs- und Listenfanatiker.

Warum kommt meine 2008er Liste erst jetzt? Seit ich diesen Vorgang betreibe (also ca. seit 1999) war ich von den gesehenen Filmen (im Kontext und als Gesamtes betrachtet) noch nie so enttäuscht wie im vorletzten Jahr. Meine letztendliche Nr. 1 der Liste war doch tatsächlich bereits der erste Film den ich in 2008 überhaupt zu sehen bekam, und die Glücksgefühle die man bei der Sichtung inspirierender Filme oft empfindet, beschränkten sich zum größten Teil auf ältere Werke der Filmgeschichte. Meine Ansicht, dass das Kino einfach richtig Scheiße geworden ist, und in der Geschichte der Kinematographie seit 1890 noch nie soviel Belangloses und so wenig Interessantes in einem Jahrzehnt abgedreht wurde wie im vergangenen Jahrzehnt, hat sich zwar auch 2009 wieder bestätigt, jedoch habe ich dort wenigstens eine würdige Nr.1 für meine Liste gefunden. Würdig heißt für mich in diesem Kontext, dass meine Nr.1 ein Film ist, der potentiell in jedem der letzten 120 Jahre auf Platz Eins einer solchen Lieblingsfilmliste stehen könnte. Trotz seiner Genialität halte ich wiederum meine damalige (und immer noch aktuelle) 2008er Numero uno We Own the Night nicht für so überragend. Zu meiner eigenen Verteidigung (und der der Kinematographie) sei jedoch gesagt, dass Grays Meisterwerk auch 2009 sehr hoch gelandet wäre – direkt auf dem zweiten Platz – und es sich daher meiner Meinung nach auch in diesem Fall nichtsdestotrotz um einen äußerst Schmackhaften Vertreter der siebten Kunst handelt.

Der Qualitätsverfall hat wahrscheinlich zum größten Teil mit der immer noch hartnäckig festsitzenden Meinung zu tun, Film – oder Kino im allgemeinen  hätte seine Aufgabe primär darin, Geschichten zu erzählen. Das mag in vielen Fällen ein durchaus angebrachter Ansatz sein, bei dem aber oft vergessen wird, dass es nicht das Was ist, sondern das Wie, das beim Erzählen entscheidend ist. Das Wie reicht aber in alle Bereiche der Produktion hinein, die beim Film sehr vielfältig und Komplex sein können. Nicht minder wichtig als das erzählen (und für mich oft wichtiger) ist hierbei die Optik, sprich das gewählte Material auf dem die Geschichte festgehalten werden soll, und ihre ins-Licht-Setzung. Was bei der ganzen Euphorie zum digitalen Zeitalter oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass immer noch kaum jemand ein Verständnis für die optischen und ästhetischen Qualitäten des digitalen Filmbildes besitzt. Einfach gesagt, habe ich es langsam satt, mir nach 20 Jahren digitaler Revolution immer noch viel zu oft dilettantische „Experimente“ mit den technischen Aspekten der Filmproduktion ansehen zu müssen. Was ziemlich oft nichts anderes heißt als: Filmen wir digital, des is billiger! Wie man’s richtig angeht haben in den 90ern die ersten Dogma Filme gelehrt, und man kann es heutzutage in kongenialer Weise in jedem Multiplex an den Werken von Michael Mann studieren. Oder sich einfach mal selbst damit beschäftigen. Wieso waren die oft einfallslosen Genre- und Billigfilmchen aus den 60ern und 70ern meist dennoch sehr sehenswert? Unter anderem wegen der brillanten Optik, von brillanten Kameramännern auf brillantes Filmmaterial gebannt. Was wurde in den 80ern sehr beliebt? Genau: Video. Und kaum einer wusste was damit anzufangen.

Inzwischen hat sich das geändert, aber die heutigen Cineasten müssen (sofern sie sich nicht nur für „Botschaften“ und die „künstlerische Aussage“ (gemeint ist hierbei meist der „inhaltliche“ Aspekt der „Geschichte“) interessieren) diesmal bei digitalen Formaten schrecklichstes Leid durchleben. Aber genug der Polemik!

Die beste schauspielerische Leistung die ich im vorletzten Jahr gesehen habe, war für mich eindeutig Casey Affleck als  Robert Ford in The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford. Schon bei der Sichtung des Trailers ahnte ich, dass ich hierbei Zeuge einer epochalen Darbietung werden würde. Die Tiefe und Komplexität der Darstellung offenbarte sich aber erst im Film. Die beeindruckendste Regie führte wahrscheinlich Dominik Graf bei Das Gelübde. Wie in den besten Kinomomenten, packte mich ein Schauer ob der Brillanz der Regieeinfälle, und ich musste vor dem übersprudelnden Ideenreichtum Grafs an manchen Stellen gar beinahe kapitulieren. Wie man so viele Ideen in einen Film stopfen kann, das ist beinahe schon unheimlich (Park Chan Wook war damit im vergangenen Jahr nicht so erfolgreich, und Sion Sono brauchte dafür 4 Stunden). Dass so etwas fürs deutsche Fernsehen produziert werden kann, zeigt aber nicht – wie man vielleicht meinen möchte – die Möglichkeiten auf, die einem talentierten und engagierten Filmemacher im deutschen Fernsehen trotz aller Einschränkungen noch bleiben, sondern verweist lediglich auf die kinematographische Brillanz und Professionalität (im besten Hawkschen Sinne) von Dominik Graf, der in dieser Art wohl eine singuläre Erscheinung im deutschen Film darstellt. Von Graf habe ich auch noch Süden und der Luftgitarrist im Kino gesehen, der zwar auch gut gefallen hat, aber dennoch nicht in dem Maße beeindruckte (wobei ich hinzufügen muss, dass es eine schrecklich verpixelte Projektion auf eine Riesenleinwand war…). Warum ich ihn hier dennoch erwähne? Einige schöne Filmzitate waren dennoch großartig, und völlig umwerfend fand ich die Hommage an meinen Lieblingsfilm von Wong Kar Wai, As Tears Go by (1988) (den ich ein paar Monate zuvor überraschend für mich im Kino wiederentdeckt hatte): als Ulrich Noethen seine Partnerin bei der Hand packte und über die Straße ins Hotel zerrte bekam ich Gänsehaut.

Die Top 10

1.  We Own the Night „Helden der Nacht“  (James Gray / USA / 2007)

Der ultimative Familienhorrorfilm. Mit schauspielerischen Höchstleistungen und einer ausgeklügelten Mise-en-scène zeigt Gray, wie man alle Klischees eines Genrefilms erfüllen kann und dennoch etwas noch nie dagewesenes auf die Leinwand bannt. Der neben Michael Mann vielleicht beste zeitgenössische Hollywoodregisseur spinnt seine Familienchronik weiter und beschließt, was er mit Little Odessa und The Yards begann. Es ist eine infernalische Tour de Force geworden, die in ihrer Konsequenz ihresgleichen sucht. Permanent geohrfeigt wankt der Zuschauer benommen aus dem Kino, mit der Erkenntnis das man auch mit dem Willen das Richtige zu tun konsequent das Falsche erreichen kann.
The Roads to Hell are paved with good intentions.

2.  Hafez (Abolfazl Jalili / Iran, Japan / 2007)

Dieser Film war meine erste Begegnung mit Abolfazl Jalili, und es war eine Offenbarung. Ein Film voller Poesie und Zärtlichkeit, die er aus den Figuren, Bewegungen, und dem Rhythmus der Montage bezieht. Nichts ist aufgesetzt, aber alles behauptet. Als allegorische Fabel über das Wesen der Hingabe, voller religiöser Motive, fließt der Film wie die Strophen eines Gedichtes, wobei  die Ideen und Vorstellungen des Sufismus  mit dem gegenwärtigen Alltag im Iran kontrastiert werden.

Jalili hat bei diesem Film nicht nur Regie geführt und ihn produziert, sondern er hat darüber hinaus auch das Drehbuch geschrieben, die Kamera geführt und an der Musik mitgewirkt, und man spürt seine Persönlichkeit in jeder Einstellung. Die Gelassenheit eines souveränen Regiealtmeisters à la Miyazaki zeichnet Hafez ebenfalls aus. Asiatisches Kino wie ich es liebe.

3.  Das Gelübde (Dominik Graf / Deutschland / 2007)

Das ist Kino pur: Übersprudelnd vor visuellen und thematischen Einfällen, zeigt Dominik Graf was man aus dem (italienischen) Genrekino alles herausholen kann. Eine unglaublich unauthentisch-authentische Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, mit Menschen wie sie moderner nicht sein könnten. Und der Film ist dennoch so deutsch, dass es eine Freude ist. Was man aus der Geschichte gelernt hat? Keine Ahnung. Denn um solch unnötigen Ballast geht es Graf gar nicht. Er lässt Widersprüchliches und Unvereinbares nebeneinander bestehen, das Leben und die Menschen in ihrer ganzen Fülle und Beschränktheit. Ein geradlinig mäandernder Koloß von einem Film – im besten Sinne unspektakulär und bodenständig. Ein gänzlich unreligiöser Film zu einem religiösen Thema?

4.  La fille coupée en deux „Die zweigeteilte Frau“  (Claude Chabrol / Frankreich, Deutschland / 2007)

Ich kenne von Chabrol immer noch sehr wenig, doch was ich vor „Die zweigeteilte Frau“ zu sehen bekommen hatte ließ mich aufmerken. Vor allem Rien ne va plus (1997), war eine wahre Entdeckung. Wie Chabrol Klischees und Konventionen nicht umgeht, nicht dekonstruiert, sondern vorführt und transformiert hat etwas das über das Spiel hinausgeht. Das Vorführen von Figuren und Genreregeln ist eine Sache die sich fast schon ins surreale steigert. In „Die zweigeteilte Frau“ sind die Figuren und Handlungen so auf das Wesentliche reduziert, dass Freiräume entstehen, die im narrativen Erzählkino eine Seltenheit sind. Ich hatte das Gefühl, dass ich mir den Film völlig frei zusammenkonstruieren konnte. Figuren und Handlungselemente als Puzzleteile eines beliebigen Ganzen. Passend in jede Richtung. Und das alles mit Verständnis und Respekt der eigenen cinematographischen Erfindung gegenüber. Eine Möglichkeit der Postmoderne, Referenzialität als Selbstreferenzialität zu betrachten, Obsession als etwas nach Innen gerichtetes. Sozusagen der Gegensatz zum Kino eines Quentin Tarantino. Ähnliches kenne ich im europäischen Film nur von Oliveira und Ruiz.

5.  Les amants réguliers „Die Unruhestifter“  (Philippe Garrel / Frankreich / 2005)

Les amants réguliers

Eigentlich kein Film von 2008, habe ich ihn erst in diesem Jahr in der regulären kinoauswertung gesehen, obwohl er sogar schon da längst im deutschen Fernsehen gesendet worden war. Warum ist er trotzdem auf meiner Liste? Weil er mir so gut gefallen hat, und ich diesen (aus meiner Sicht/ung) ziemlich schlechten Jahrgang zumindest mit einer Top 5 abschließen wollte. Les amants reguliers war für mich eine Darstellung des Heroinkonsums, und seiner Auswirkung auf die Wahrnehmung. Die 68er Revolution als von vornherein gescheitertes Projekt der Bourgeoisie ist hier nur Hintergrundfolie für sehr individuelle konflikte. Die an Bresson erinnernden Traumsequenzen in wunderschönem schwarz-weiß haben mich am meisten beglückt – ein Ausweg aus der gnadenlosen Alltagserfahrung, hier ebenfalls in schwarz-weiß. Nachdem sich der Nebel lichtet, bleibt, vielleicht, das Kino.

Honorable Mention (in alphabetischer Reihenfolge)

Die folgenden Filme fand ich auch sehr toll, wobei mancher wohl eher retrospektiv auf dieser Liste gelandet ist (z.B. There Will be Blood), da ich mich einfach nicht mehr vollständig erinnern kann welche Filme Anfang 2009 alle von mir aufgelistet worden wären.

Actrices
Valeria Bruni Tedeschi  Frankreich  2007

Auf der anderen Seite
Fatih Akin  Deutschland, Türkei, Italien  2007

Centochiodi  Hundert Nägel
Ermanno Olmi  Italien  2007

Die zweite Frau
Hans Steinbichler  Deutschland  2008

Dr. Plonk
Rolf de Heer  Australien  2007

Hotel Chevalier
Wes Anderson  USA, Frankreich  2007

Johnny 316
Erick Ifergan  USA  2006

Les amours d’Astrée et de Céladon
Eric Rohmer  Frankreich, Italien, Spanien  2007

Stellet licht  Stilles Licht
Carlos Reygadas  Mexiko, Frankreich, Niederlande, Deutschland  2007

Sun taam  Mad Detective
Johnnie To, Ka-Fai Wai  Hong Kong  2007

Stop-Loss
Kimberly Peirce  USA  2007

The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford  Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford
Andrew Dominik  USA, Canada  2007

There Will Be Blood
Paul Thomas Anderson  USA  2007

Weisse Lilien
Christian Frosch  Österreich, Deutschland, Luxemburg, Ungarn  2007

Toi  You
François Delisle  Canada  2007

Abschließend sollte ich vielleicht noch anmerken, dass ich es mir eigentlich ebenfalls zur Gewohnheit gemacht habe bei solch einer Liste immer auch alle neuen Filme zu nennen die ich im Verlauf des Jahres gesehen habe. Denn das Gelistete ist ja immer nur eine sehr geringe Auswahl aus einem unermeßlichen Quell von Filmen, und lässt sich so richtig erst im Kontext des Gesichteten, als Auswahl, erschließen. Für 2008 mache ich aber eine Außnahme, denn obwohl ich seit 1999 immer genau über jeden gesehenen Film Buch führe, habe ich das 2008 tatsächlich etwas vernachlässigt, und kriege somit wahrscheinlich nicht alle Titel, die ich gesehen habe, zusammen. Und besser als eine unvollständige Liste finde ich an dieser Stelle dann eben gar keine.
Was ich aber sagen kann ist dass ich zwischen 60 und 80 Neuerscheinungen im weiten Sinn des Wortes gesehen habe, was so ziemlich der Anzahl von Filmen entspricht wie ich sie in den vergangenen 5 Jahren (seit ich regelmäßiger auf Festivals weile) im Schnitt auch zu sehen bekommen habe. Nichts Weltbewegendes also, nur die Qualität des Jahrgangs (meines gesichteten natürlich) hat mich schwer enttäuscht. Aber 2009 ist zum Glück wieder alles besser geworden. Ob mein Riecher oder das Glück entscheidend waren weiß ich zwar noch nicht genau (ich tippe jedoch auf Ersteres); aber ich freue mich wesentlich mehr darauf, die Top 10 für 2009 zu veröffentlichen. Hoffentlich dann auch etwas früher.