Somatische Verdichtungen im Außerweltlichen – Los ojos del doctor Orloff (1978)




    You took the dream I had for us
    Turned my dreams into dust
    I watch a phone that never rings
    I watch a door that never rings
    Bring you back into my life
    Turn this darkness into light
    I’m all alone in this house
    Turn this house to a home

    (Four Tops – Seven Rooms of Gloom)


Filme über tiefsitzende seelische Verwundungen tummeln sich so einige im Werk des unterschätzten Gefühlsverorters Jesús Franco, nach dem Tod seiner ersten Muse Soledad Miranda im Sommer 1970 traten sie für einige Jahre gar in gehäufter Form auf. Im Zuge dessen wurdeauch zweieinhalb Jahre später „Los ojos del doctor Orloff“ realisiert, der jedoch für vier weitere Jahre unveröffentlicht blieb. Für Franco bedeutete er einerseits ein Komfortstück, die modernisierte Rückkehr zu seinem präsentesten Filmschurken der 60er Jahre, andererseits geht er über das hinaus, was intellektuell wie emotional, nicht aber primär stilistisch im Zentrum von Bewältigungsfilmen wie „La fille de Dracula“ (1972), „La nuit des étoiles filant“, „Al otro lado del espejo“ oder auch „Le journale intime d’une nymphomane“ (alle 1973) steht, und genießt dafür keinen übermäßig guten Ruf. Wie der zur selben Zeit, gleichfalls in Eigenproduktion durch die Manacoa Films entstandene Tsen-Brider-Giallo „Un silencio de tumba“ (letztlich 1976 veröffentlicht) entsagt auch die Rückkehr des im vergangenen Jahrzehnt inszenatorisch noch so frivol an den damaligen Zeigegrenzen wütenden mad scientists jedwedem Hauch von Erotik, Überschwang oder ekstatischer Extravaganz vollkommen. Beide sind sie Filme, die über die Weltsicht ihrer Protagonisten entsprechend umgefärbt werden. Hemmungen halten sie an, deren Lösung gibt sie frei. Kann man in ersterem noch dabei zusehen, wie in der graduell lebloser geratenden Eröffnungssequenz zwischen meerwärts ankommenden Enthusiasten und mental abblockender Gastgeberin in Parallelmontage solange das Leben aus den Nähten weicht, bis das sommerliche Urlaubsdomizil einer Gruppe enthemmter Filmschaffender gar nicht mehr passen mag zu den aus dem Off kolportierten Exzessen, herrscht hier bereits von Beginn an Ebbe.

Loreta Tovars Beine können noch so lasziv ausgebreitet auf dem Laken ihrer kranken Schwester ruhen, gegen die umgebenden Stimmungen kommen sie doch nicht an. Stimmungen, vage Ahnungen und Gefühlsverknüpfungen – sie sind es, über die Franco hier vornehmlich erzählt. Matte Herbstfarben regieren, wo doch offensichtlich Frühling herrschen sollte, das Erwachen der Liebe; wieder und wieder Hippies, die zum Schwimmen einladen, in luftigen Gewändern auf der Gitarre wehleiden und dennoch dort draußen, in der freien Natur, von verblassendem Grün, erdigen Tönen frei von Sonnenwärme, blühenden Knospen entlang dürrer Trageästchen vermessen eingerahmt werden. Alles ist ohne Kraft in einem höchstgradig sinnlichen Film und was noch über eine eiserne Reserve verfügt, ist beunruhigend akzentuiert. Schäbiges, abgegrabbeltes Weiß an den Wänden, beige allenthalben in den Farbräumen der Inneneinrichtung, agfarote Blumen auf dem Tisch, an dem sich die intriganten Hausherrinnen entfernt gegenüber sitzen, immer im Vordergrund von Schnitt und Gegenschnitt – Sprenkler deutscher Melowehmut vor dem nächsten Mord. Wie viele Töne das spärlich vergossene Kunstblut annehmen kann, vom saftigen Rot einer handtuchumhüllten Kopfwunde bis hin zur künstlichen Helligkeit des Doktors kostbarster Tinte. Radikal Melissa (Montserrat Prous) entsprechend, für die weiters die Francoschen Zooms und Schwenks zur Bildauffächerung allein Ernüchterung enthüllen.

Annähernd 180 Grad wandert die Kamera ausgehend von ihr im Krankenbett an den Wänden entlang, wo der Wetterschein des schönen Tages eindringt, indessen wenige Meter weiter links Diener Mathews (José Manuel Martín) den bis dato unsichtbaren Rollstuhl nach rechts ins kompositorische Idyll hineinschiebt. Drei Impressionen, drei Gefühlslagen im Wechselbad einer einzigen Einstellung – Francos chronische Unlust am Schneiden schafft Präzision, nicht, wie häufig kolportiert, Nachlässigkeit. Weiterführend auch jene Freizügigkeit, die er dem begierig aufsaugenden Figurenblick Melissas in pralleres Leben hinein zugesteht; behutsam schwenkt eine Subjektive vom Hippiepärchen im Nachbargarten zum abseits musizierenden Sweet Davey Brown (Robert Woods). Wie er die Gesichter und vor allem Melissas gebrochenen Körper kurz darauf beim abwechselnden Beschnüffeln aus nun gegenseitigen Subjektiven möglichst langanhaltend hinter blasser Belaubung verhüllt, ist die Kehrseite dieser entspannt-beunruhigenden Meisterschaft, das Sinnlichkeiten erschütternde Element.

Mitunter durchweht ein ungewohnt sardonischer Wind „Los ojos del doctor Orloff“. Des Rollstuhls nach einigem Hin und Her ansichtig geworden, fällt dem süßen Davey nichts Warmherzigeres ein, als die knappe Feststellung, dass er ja auch gerne Fahrrad fahre. Diener Mathews hingegen ermahnt seine Dienstherrin dazu, nicht wegzugehen, während er Nachforschungen anstellt. „Natürlich nicht.“, kann da nur die vom Film betreten ausgestellte Replik lauten. Kurz zuvor war uns Zuschauenden Einblick gewährt worden in einen nächtlichen Kampf, der den Eindruck endgültig ins Absurdistische verlegt, eine nahezu verschwörerische Haltung über die Leinwandbegrenzung hinfort eingeht. Bisschen für Bisschen gab die Kamera dort Raum frei für Melissa im Begriffe eines nächtlichen Schlafwandelversuches: Aufstehen, nach links aus dem Bett, mit die Wand entlang, dann rückwärts weichend vor ihr davon, wo sie sich doch gerade annähern will. Nur, um dann sogleich auf sie einzudrängen, als die Kraft nicht ausreicht. Tief im Herzen ein Verschwörungsfilm, ist jedes Quantum Seelenleid stets bloß Auserwählten vor oder auf der Leinwand zugänglich. Melissa und Mathews, die erbschleicherische weibliche Verwandtschaft unter sich, der ohnehin ganz sein eigenes Rachesüppchen aufköchelnde Dr. Orloff (William Berger) mit seiner Assistentin Inge – die wichtigsten handelnden Charaktere scheinen streng in Paaren sortiert zu existieren, abseits verwundener Interessen im Bemächtigungsspiel gar in abgeschotteten Lebenswelten ihre eigenen Bildräume zu besetzen. Kümmernd schmiegt sich Inge im gleichen Frame an Orloffs Backe, die unentwegt Rachefantasien herauspresst – partiell abstrakte Gesichtsfelder im alle Baulichkeiten ausblendenden Normalformat.

So nah sich die Figuren bisweilen kommen, so fern ist ihnen alles Weltliche. Obwohl alle Mitglieder der Familie Comfort (welch ein Hohn!) in einem vornehmen Herrenhaus residieren und selbst der angeworbene Doktor räumlich immerfort wie nur einen Hinterausgang entfernt nah wirkt, bildet sich nie ein geschlossenes Raumgefühl heraus, bleibt das Architektonische bröckchenhaft. Etwas hermetisch Abgeschottetes liegt in den Zuneigungen und wird verstärkt durch die mehr Vergänglichkeiten anhaftenden Impressionen denn einem narrativen Strom geneigte Mise en Scène. Betulichen Schwenkes vermisst die Kamera Melissas Zimmerfenster, den herauskitzelnden Ozean hinter der Trennwand – ein rascher Schnitt, die dezente Verschiebung des Aufnahmewinkels und das Fenster ist in himmelblauer Unschärfe leergefegt. Doch plötzlich lässt Franco scharfstellen, ein Drahtmuster vor dem Glas wird erkennbar. Über diesen sich transformierenden Eindrücken hallt Daveys trüber Song – ob von außerhalb hinein oder im Kopf der Eingesperrten wider, es bleibt ein gewahrtes Geheimnis. Echte Distanzen verbleiben vage, die Fenster geschlossen. Ernüchterung schaffende Schnitte wie dieser, geringfügige Verschiebungen der Ausgangseinstellung ziehen sich als roter Faden durch die notdürftig als Horror ausgegebene Seelenreise – das Vernichtende in den Fugen. Die Okönomie des Elaborierten ist Francos Metier, „Los ojos del doctor Orloff“ ein Film vom Technischen ins Emotionale herausquellenden Unheils. Seine wenigen, im Hervorgebrachten brisenleichten Interaktionen zwischen Melissa und Davey sind von atemberaubend wehmütiger Schwere – ein Paradoxon. Vorranging bleiben sie mehr rein mechanische Zusammenlegungen filmischen Existenzraumes denn echte Zusammentreffen – ob sie sich auch für ihn interessiert, wird nie abschließend ergründet.

Generell verbleibt der freimütige Musiker als eigentümliches Unikum der Bildkadrierung. Es fehlt ihm an jener straffen Verpartnerung, die alle Beziehungen auszeichnet – am ehesten noch wird er mit einem Inspektor geshippt, welchem er unentwegt seine dunklen Ahnungen bezüglich der Comforts aufbindet. Verliebt in eine immobile Illusion der Zweisamkeit, keinen Menschen. In der zweiten Filmhälfte bleibt jede Tangierung beider Welten aus. Davey ist schlicht ein Stalker, der durch das andauernde Beobachten leerer Häuserfassaden und umtriebiger Handlungen eine seelische Absenz seiner Angebeteten verstärkt, dabei unweigerlich ihrer realexistenten auf die Schliche kommt. Dass er dieserart schlussendlich zum Helden des Tages mutiert, ist Gipfel der Sardonie – in einem Film des dezidiert unvollständigen Blickes auf Menschen schon ganz schön viel. Wie im Falle seiner einseitigen Leidenschaft bedürfte es häufig einer Handlung, Freilegung oder Befreiung, um klar zu sehen. An dieser Schnittstelle paktiert Franco ganz freimütig mit dem Thema der Gedankenkontrolle, das ihn bereits von „Gritos en la noche“ (1962) an – dem ersten der Orloff-Filme und seinem vierten insgesamt – über Jahrzehnte hinweg immer wieder umtrieb. Mehr Geäst denn blickspendende Freifläche bezirzt eine abermalige Subjektive, als die Comforts aus dem häuslichen Ernste heraus die überschwänglich auf dem Rasen umherbrausenden Nachbarn ausspähen. Und in einer wortwörtlichen Umnachtungsszene ganz nah am Herzen des Films darf Melissa Mathews, ihren bis dato und darüber hinweg einzigen Vertrauten, unter Hypnose umbringen. Ein unentwegtes Wabern auch Francos atonales, verstört-gespreiztes Klaviergeklimper für Zitterpianisten, eine Kamera, die wie ein den Pfad bewachender Bergdrache Rauch aus den Nüstern über die bald ohnmächtig Daniederliegende zu blasen scheint – nirgendwo wird das interaktiv Ineinanderhakende von Sujet und Inszenierung deutlicher herausgearbeitet.

Genre ist eben für Franco zuallererst einmal ein Figurenrahmen, der die angestrebten Seelenregungen freilegt und in eine präzise, doch nie starre Form sortiert, welche die Zuschauerschaft annehmen oder ablehnen kann. Seine Beklemmungsarchitektur, die engen, via Aufnahmeformat direkt aus dem klassischen Horror der 30er Jahre in die 70er transplantierten Räumlichkeiten wie das eigenwillig kondensierte Treppenhaus der Comforts, die tunnelartig anwachsende Treppe hinunter in Orloffs Heimstätte – diese Dinge funktionieren grundsätzlich auch als bloße Genretopoi und sind doch mehr, eine Dechiffriermaschinerie für Francos Bild der conditio humana. Etwas Thronendes haftet William Bergers Zügen in den letzten Filmminuten an, im Gegenschnitt wabern sie für andere totalitär über dem eigenen, darunter fixierten Kopf hinweg, für ihn selbst ist es gelegentlich raumeinnehmend in der Nahaufnahme. Schon die gefrorene Gesichtscollage als Vorspann hatte es angedeutet – im Gegensatz zu Howard Vernons Interpretation des gleichen Verbrechers, ist dieser Orloff ein greifbaren Nöten entkoppeltes Symbol. In seinen Blicken steckt ein narrativ nur unzureichend, mit einer auf Individuen basierenden Kränkungshistorie, unterfütterter Durst nach Weltenrache. „Los ojos del doctor Orloff“ – sie sprechen vom vagen Verzweifeln an der Ungerechtigkeit der Welt. Franco, der grenzenlos Trauernde, fühlt auch mit ihm und lässt ihn doch in wortwörtlich allerletzter Filmminute scheitern – denn diese Welt ist bitter.


Los ojos del Dr. Orloff – Spanien 1978 – 80 Minuten – Regie: Jesús „Jess“ Franco – Produktion: Jesús „Jess“ Franco, Antonio Cervera – Drehbuch: Jesús „Jess“ Franco – Kamera: Antonio Millán – Schnitt: Roberto Fandiño – Musik: Jesús „Jess“ Franco (als „David Khunne“) – Darstellende: Montserrat Prous, William Berger, Robert Woods (als „Robert Wood“), Loreta Tovar, Kali Hansa u.v.a.


Dieser Beitrag wurde am Samstag, Juni 13th, 2020 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Essays, Filmbesprechungen, Filmschaffende, Filmtheorie veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “Somatische Verdichtungen im Außerweltlichen – Los ojos del doctor Orloff (1978)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (15-06-20) on Juni 15th, 2020 at 18:40

    […] der großen, wunderbaren Welt des Jess Franco und hat sich auf Eskalierende Träume diesmal „Los ojos del doctor Orloff“ […]

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