Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
(Matthias Claudius – Der Mond ist aufgegangen)
Life is very precious – even right now.
(Günther Kaufmann in Götter der Pest [Rainer Werner Fassbinder, 1970])
Was liegt am Strand und redet undeutlich?
Eine Nuschel.
(Lieblingsscherz meines Oberstufenmathematiklehrers)
Melancholie ist das falsche Wort
Für all das, was man nicht sagen will und kann
Man will nicht zurück
Und doch sehnt man sich dorthin
Wohin man nicht mehr gehen kann
(Mutter – Böckhstr. 26)
Auf den gestrigen Jahresrückblick folgt nun noch ein Rückblick auf die Dekade mit einer Sammlung von Listen zu den 2010er Jahren, also 2010 bis 2019 (da ästhetisch schöner und wir uns in diesem Fall der allgemeinen Gepflogenheit gegenüber mathematischer Korrektheit gerne anschließen). Fast alle, die zu den Listen 2019 etwas beigesteuert haben, sind auch hier wieder dabei – zudem freuen wir uns, dass Lukas Foerster (Dirty Laundry und Filmbulletin u.a.) und Michael Müller (Negative Space und Blickpunkt:Film) sich zusätzlich angeschlossen haben (Lukas hat außerdem nachträglich noch etwas zum gestrigen Beitrag nachgereicht). Wie immer war Form, Inhalt und Umfang allen freigestellt, einige haben sich aber als Hommage an die Listen-verrückte, leider jedoch längst eingestellte Filmzeitschrift Steadycam für eine „Catch-22“ entschieden.
Nach großer Verzögerung im vorletzten Jahr und gänzlichem Ausbleiben eines Listen-Beitrags im letzten Jahr freuen wir uns, diese langlebige Tradition von Eskalierende Träume nun wieder fortführen zu können und damit anzuknüpfen an 2017, 2016, 2015, 2014, 2013, 2012, 2011 und 2010.
Erfreulich viele der bisherigen Listen-Beitragenden sind auch diesmal wieder dabei, ebenso sehr freuen wir uns aber auch über einige Neuzugänge unseres Listenwahnsinns: Bilquis Castaño Manias (Filmwissenschaftlerin), Florian Widegger (Programmleiter Filmarchiv Austria), Kamil Moll (Weird Magazin), Sebastian Schwittay (Filmblog Odd & Excluded und Filmkollektiv Frankfurt) sowie Silvia Szymanski (für diverse Publikationen schreibend und seit einiger Zeit auch Mitglied des Hofbauer-Kommandos). Und Lukas Foerster veröffentlicht seine aktuelle Top Ten zwar immer im Blog, steuert für unsere Sammlung allerdings noch einige Entdeckungen bei.
So entstand der nachfolgende Streifzug durch neue und ältere Favoriten des Jahres 2019, bei dem einige auch noch einen Rückblick auf 2018 nachgereicht haben.
Life is like a B-picture script. It’s that corny. If I had my life story offered to me to film, I’d turn it down.
(Kirk Douglas)
Die 20 schönsten Filme, 2018 gesehen
schwebt über allem:
Tenshi no harawata: Akai kyôshitsu „Angel Guts: Red Classroom“
Chusei Sone, Japan 1979
Well, I saw a man walking on the water, walkin‘
Coming right at me from the other side
Calling out my name
And, „Do not be afraid, now!“
Feet begin to run, run, run
Pounding in my brain
(Richard Hell & the Voidoids – Walking on the Water)
Newton Minows Charakterisierung der US-Fernsehlandschaft als vast wasteland aus dem Jahre 1961 hat sich eingebrannt in das kollektive Gedächtnis und ist auch heute noch schnell bei der Hand, wenn es darum geht, kulturkritische Untergangsszenarien heraufzubeschwören. Eine weitere folgenschwere Zuschreibung erfolgte im Zuge der Debatte um das so genannte ,Qualitätsfernsehen‘ in den neunziger Jahren. John Thornton Caldwell reduzierte die Ästhetik des gesamten US-Fernsehens vor HILL STREET BLUES (NBC 1981-87) und MIAMI VICE (NBC 1984-90) auf den uncharmanten Begriff des zero-degree style, gedacht als blasse Kopie der Hollywood‘schen continuity-Prinzipien auf B-Film-Niveau, konservativ, nichtssagend, homogen. Damit konnten zwar Feuilleton und Wissenschaft in trauter Zweisamkeit endlich frei, ohne Rechtfertigungspflichten über die ästhetische Überlegenheit zeitgenössischer US-Serien gegenüber ihren Vorläufern oder gar dem Kinofilm fabulieren – der Fernseh- und mithin Mediengeschichtsschreibung jedoch wurde damit ein Bärendienst erwiesen. Dabei zeigt sich das US-Fernsehen dieser viel gescholtenen Periode von immerhin drei Dekaden als äußerst dynamisch, vielfältig, gar experimentierfreudig und immer wieder überraschend und zuweilen irritierend, voller kleiner und großer Wunder. Von eben diesen Wundern soll an dieser Stelle in mehr oder minder regelmäßigen Abständen die Rede sein.
O what can you give me?
Say the sad bells of Rhymney.
Is there hope for the future?
Cry the brown bells of Merthyr.
Who made the mineowner?
Say the black bells of Rhondda.
And who robbed the miner?
Cry the grim bells of Blaina.
(Idris Davies – Gwalia Deserta XV)
You’re a kid Casanova, you’re no Joseph
It’s a labor of love fucking yourself to death
Orgasm addict, you’re an orgasm addict
(Buzzcocks – Orgasm Addict)
Und die Möwen, froh und heiter,
kleckern öfter was auf’s Deck,
doch der Moses nimmt den Schrubber
und fegt alles wieder weg.
Holahi, holaho, holahia, hia, hia, holaho!
(Eine Seefahrt, die ist lustig – deutsches Volkslied)
Populäres Liedgut, Hafenkneipen, Freddy Quinn, Wochenmärkte, Rotlichtmärkte, Fisch oder Fleisch – weder noch. Tillmann Scholls großangelegter Dekadenfilm – dessen Aufnahmewurzeln noch vor seinem Filmdebüt liegen – „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ ist der seltene Dokumentarfilm ohne Wahrheitsanspruch, die Weltvermessung, die sich von ihren Objekten beständig etwas vorspielen lässt, ohne sie zwingend abschließend verstehen, durchschauen, einordnen, schlimmstenfalls katalogisieren zu müssen. Denn Scholl weiß: Man kann sie nicht begreifen, die Leut‘. Größtenteils zentriert um den kleinen – so betont er selbst gern – Hamburger Schankwirt Jürgen Henflein, der beschäftigt hinterm Tresen des „Schauermann“ Bezugspunkt für die Ausgestoßenen St. Paulis und die in deren Welt eintauchende Kamera gleichermaßen darstellt. Darstellt.
My girl babysits for someone on her block
Then I come up to join her and we start to rock
The baby hears the beat and man it is a shock
When he goes ‚Ggggg-gggg‘
(Buzz Clifford – Baby Sittin‘ Boogie)
„Halloween Kills“, der immerhin schon zwölfte Teil der langlebigen Reihe um den lahmbeinigen Bürgerschreck Michael Myers, zweite Fortsatz eines zweiten Reboots und Mittelteil einer neuen Trilogie beginnt, wie in Zukunft idealerweise jedes Franchise seine bloß vordergründig endenden Bahnen ziehen sollte. Als Fußreise, als Fahrt aufnehmende Geisterbahnfahrt durch den Ort, an dem alles anfing und zahllose Male wiederbegann, kommentiert von Figuren, die ursprünglich nie dort waren. Als Remix. Zwei weitere Verkettungen nach wie neben dem Rückblick und schon befindet man sich mittendrin in zweifacher, dreifacher, mannigfacher Hinsicht – ungefragt tief ins filmische Universum, seinen Kanon, die irrelevanteren Teile seiner Hintergründe verfrachtet, als Fremde, als Reihennerds direkt neben der von einem anderen Werk her ausblutenden Jamie Lee Curtis auf der Ladefläche eines rasenden Pick-ups in Richtung bloß weg in die Nacht; kurz: im strammen Tempo der Inszenierung, die keine Fragen aufwirft, jedoch alle beantwortet. Das Alte und die Gegenwart eben auch des Franchisekinos so unmittelbar nebeneinander zu schachteln, ist ein simpler Trick mit großer kinetischer Freude. —> MEHR LESEN
Kommt man später einmal in schlimmstenfalls eingeweihten, scheußlich cinephilen Kreisen, bestenfalls aber breitem rezeptionsgeschichtlichem Konsens auf das deutsche Populärkino der Wechseljahre hin zu den neuen wilden Zwanzigern zu sprechen, so wird man sich hoffentlich erinnern an das, was heute noch als künstlerisch tadelhaft gilt: Jene bemerkenswerte Auffächerung, die die vorwiegend romantische Komödie nach Schweigerschem Patentrezept ungefähr zehn Jahre nach ihrem gemeinhin verhassten Urknall hinlegte. Originär filmisch heraussezierte Weisheiten hinterm literarischen Niveau davonflatternder Kalendersprüche bei Florian David Fitz, das ungezwungen Emanzipatorische bei Anika Decker und Karoline Herfurth, der messerscharfe Blick aus leichter Hand Bora Dağtekins – jetzt: Florian Gallenberger, der schon mit seinem letzten Kinofilm eine pilcherwürdige Altersabschiedsreise ins Sublime überführte und nun ansetzt, das Stiefkind des teutonischen Gegenwartskinos mit internationalem Arthouse auszusöhnen. Vermutlich abermals abseits des Blickes all jener, die die Offenheit neuer Konzepte stets lautstark einfordern, ihnen dann aber selbst nie mit ebensolcher begegnen wollen. Die Reifephase dann eben ohne sie. —> MEHR LESEN
Dominik Grafs neuer Film ist ein ganz schöner Brocken, ein dreistündiges Gesellschaftsporträt der frühen 30er Jahre in Berlin, angesiedelt im Auge des Sturms, am Kulminations- und Siedepunkt verschiedener konträrer gesellschaftlicher Tendenzen und Kräfte, die zum letztendlichen Zerreißen der Weimarer Republik und damit zum Aufstieg des Nationalsozialismus geführt haben. Graf inszeniert seinen Film folgerichtig als gewaltigen Strudel der Bilder und Eindrücke, der Gelüste, Bestrebungen und Emotionen – und auch wenn ich nicht jedes der vielen verschiedenen disparaten Elemente, die der Film zur Auserzählung seines komplexen Kräftespiels nutzt, als gelungen eingebunden betrachten würde (mit dem Split-Screen treibt man es zuweilen etwas zu weit), so hat sich der Film dennoch festgesetzt in mir, und lässt mir auch zwei Wochen nach der Sichtung keine Ruhe. Immer wieder zurückdenken muss ich dabei ausgerechnet an den leisesten Abschnitt des Films, an die feine Kontrastdramaturgie, die Graf in der letzten halben Stunde fährt, wenn er von der lauten, unübersichtlichen Vorkriegshölle Berlins in Fabians ländliche Heimat nahe Dresden wechselt, und den Protagonisten dort ein wenig Stille und innere Einkehr finden lässt (wunderschön vertont vom „Adagio Religioso“ aus Béla Bartóks drittem Klavierkonzert). Die Vergeistigung und Entrückung dieses letzten Akts deutet sich natürlich schon vorher an, in Fabians Tendenz, der Welt mit einem gewissen Ekel zu begegnen (exemplarisch die Szene, in der er seinem Verleger einen eitrigen Verband wechseln muss), und der manchmal fast etwas passiven Art, sich von den politisch-moralischen Kräften seiner Zeit zerreiben zu lassen. Inmitten all dieser Dynamiken wirkt Fabian zugleich beteiligt wie unbeteiligt, dürstend sowohl nach Bindung als auch nach (moralischer) Distanz, ein Teilchen im Sturm, das sich ausprobiert und sondiert, am Ende aber im Kräftesturm zerfällt. —> MEHR LESEN
Über 100 Jahre alt, diskursiv so aktuell wie eh und je, in jedweder Hinsicht auf das Rudimentärste runtertranchiert mit der feinen Klinge des frühfilmischen Gestaltens. Sie ist Ärztin vertieft in der allwährenden Krankheitsforschung und nimmt aus kuppelnder Elternhand ihn, Fabrikantensohn wie zur Wonne des seligen Nichtstuns neigender Dulli, entgegen. Er kann den ganzen Ernst des Lebens, die Leere des reich gedeckten Frühstückstisches dann doch nicht so gut verkraften, saugt sich folglich am urbanen Nachtleben sowie einer einer lebensdurstigen Geliebten fest, die alsbald ein Kind erwartet. Wem obliegt in bitter verwechslungskomödiantischer, aber völlig ernst ausgespielter Zuspitzung die unangenehme Aufgage, die andere Frau durch die Müttersterblichkeit zu begleiten und drückt den entwurzelten Nachwuchs in großer Kinoversöhnungsgeste gleich samt Taugenichts ans eigne Herz? Richtig. —> MEHR LESEN
Nachdem Terza Visione im Jahr 2020 aufgrund der Pandemie ausgefallen ist, kehrt das Festival nun im Spätsommer 2021 mit einer Sonderausgabe zurück (Bericht dazu bei Blickpunkt: Film).
Update: Mittlerweile gibt es auch das diesjährige Festivalplakat sowie die Programmübersicht mit Zeitplan und Ticketinfos: —> MEHR LESEN
Auch dieses Jahr gibt es einen gesammelten Jahresrückblick bei Eskalierende Träume, der mit Listen, Texten, Bildern, GIF-Slideshows, Trailern und Musik auf das (vor allem, aber nicht nur) Kino- und Filmjahr 2020 zurückblickt.
Die meisten Beitragenden der 2019-Liste sind wieder dabei und wir freuen uns zudem über einige Neuzugänge beim Rückblick auf 2020: Björn Schmitt (Teil des Dreier-Teams hinter den neu gegründeten Tagen des experimentellen Films, die Mitte Mai 2021 in Frankfurt an den Start gehen), Frank Castenholz (Weird Magazin), Johannes Lehnen (Filmemacher) und Tilman Schumacher (critic.de).
Vorgaben zu Form, Umfang und Fokus der Beiträge gab es keine – entsprechend vielfältig ist auch diesmal die nachfolgende Sammlung geworden, was vereinzelt auch die Schreibweise bzw. Sprache der Titel betrifft.
Vor dem Start hier noch ein Einblick in das ET-Büro, wo unter schwierigen technischen Voraussetzungen die Notizen und Beiträge aufbereitet werden mussten (weshalb es immer etwas dauert, bis alles endlich in Form gebracht ist und veröffentlicht werden kann):
Aber schließlich war alles beisammen und geordnet, wobei die ersten und letzten beiden Beiträge diesmal aus (bild)dramaturgischen Gründen von der sonstigen alphabetischen Sortierung nach Vornamen abweichen. Und nun beginnt die Reise durchs Jahr…
Zwei stilistische Fortentwicklungen eng verzahnt: Den oft feixend an den Randfasern des im deutschen Kino so wichtigen heiligen Ernstes bei der Inszenierung auch heiterer Kost operierenden Regisseur Alfred Vohrer (1914 – 1986) und den alle Bemühungen der Regie stets in angemessene Entsprechung kleidenden Filmkomponisten Peter Thomas (1925 – 2020) verband 1966 bereits eine stolze Reihe von sechs Kollaborationen in jeweils weniger als zehn Jahren beim Kino, als ersterer zweiteren endlich auch bei dem wohl größten Prestigeprojekt seiner Gesamtlaufbahn zur Seite gestellt bekam. Die Karl-May-Filme der Rialto Film gingen mit “Winnetou und sein Freund Old Firehand” in die nächste Runde, wurden jedoch zuvor im Boxenstopp merklich verjüngt. Lex Barker sowie Stewart Granger, die alternden Allzuverlässigkeiten deutscher Populärkultur, wichen von der Reihe, der attraktive Italiener Rik Battaglia wurde nach seinem reichlich Liebespost kostenden Ikonenmord im Abschluss der Winnetou-Trilogie zur heißblütigeren Version eines Westhelden befördert. Die Schurken machte man in Abweichung zum Gros der übrigen Filme zu aus schierer Bereicherungslust mordenden Desperados, rachegetriebenen Soziopathen und sogar vergnüglich-einnehmenden Antischurken. —> MEHR LESEN