„Halloween Kills“, der immerhin schon zwölfte Teil der langlebigen Reihe um den lahmbeinigen Bürgerschreck Michael Myers, zweite Fortsatz eines zweiten Reboots und Mittelteil einer neuen Trilogie beginnt, wie in Zukunft idealerweise jedes Franchise seine bloß vordergründig endenden Bahnen ziehen sollte. Als Fußreise, als Fahrt aufnehmende Geisterbahnfahrt durch den Ort, an dem alles anfing und zahllose Male wiederbegann, kommentiert von Figuren, die ursprünglich nie dort waren. Als Remix. Zwei weitere Verkettungen nach wie neben dem Rückblick und schon befindet man sich mittendrin in zweifacher, dreifacher, mannigfacher Hinsicht – ungefragt tief ins filmische Universum, seinen Kanon, die irrelevanteren Teile seiner Hintergründe verfrachtet, als Fremde, als Reihennerds direkt neben der von einem anderen Werk her ausblutenden Jamie Lee Curtis auf der Ladefläche eines rasenden Pick-ups in Richtung bloß weg in die Nacht; kurz: im strammen Tempo der Inszenierung, die keine Fragen aufwirft, jedoch alle beantwortet. Das Alte und die Gegenwart eben auch des Franchisekinos so unmittelbar nebeneinander zu schachteln, ist ein simpler Trick mit großer kinetischer Freude.
Kommt man später einmal in schlimmstenfalls eingeweihten, scheußlich cinephilen Kreisen, bestenfalls aber breitem rezeptionsgeschichtlichem Konsens auf das deutsche Populärkino der Wechseljahre hin zu den neuen wilden Zwanzigern zu sprechen, so wird man sich hoffentlich erinnern an das, was heute noch als künstlerisch tadelhaft gilt: Jene bemerkenswerte Auffächerung, die die vorwiegend romantische Komödie nach Schweigerschem Patentrezept ungefähr zehn Jahre nach ihrem gemeinhin verhassten Urknall hinlegte. Originär filmisch heraussezierte Weisheiten hinterm literarischen Niveau davonflatternder Kalendersprüche bei Florian David Fitz, das ungezwungen Emanzipatorische bei Anika Decker und Karoline Herfurth, der messerscharfe Blick aus leichter Hand Bora Dağtekins – jetzt: Florian Gallenberger, der schon mit seinem letzten Kinofilm eine pilcherwürdige Altersabschiedsreise ins Sublime überführte und nun ansetzt, das Stiefkind des teutonischen Gegenwartskinos mit internationalem Arthouse auszusöhnen. Vermutlich abermals abseits des Blickes all jener, die die Offenheit neuer Konzepte stets lautstark einfordern, ihnen dann aber selbst nie mit ebensolcher begegnen wollen. Die Reifephase dann eben ohne sie.
Dominik Grafs neuer Film ist ein ganz schöner Brocken, ein dreistündiges Gesellschaftsporträt der frühen 30er Jahre in Berlin, angesiedelt im Auge des Sturms, am Kulminations- und Siedepunkt verschiedener konträrer gesellschaftlicher Tendenzen und Kräfte, die zum letztendlichen Zerreißen der Weimarer Republik und damit zum Aufstieg des Nationalsozialismus geführt haben. Graf inszeniert seinen Film folgerichtig als gewaltigen Strudel der Bilder und Eindrücke, der Gelüste, Bestrebungen und Emotionen – und auch wenn ich nicht jedes der vielen verschiedenen disparaten Elemente, die der Film zur Auserzählung seines komplexen Kräftespiels nutzt, als gelungen eingebunden betrachten würde (mit dem Split-Screen treibt man es zuweilen etwas zu weit), so hat sich der Film dennoch festgesetzt in mir, und lässt mir auch zwei Wochen nach der Sichtung keine Ruhe. Immer wieder zurückdenken muss ich dabei ausgerechnet an den leisesten Abschnitt des Films, an die feine Kontrastdramaturgie, die Graf in der letzten halben Stunde fährt, wenn er von der lauten, unübersichtlichen Vorkriegshölle Berlins in Fabians ländliche Heimat nahe Dresden wechselt, und den Protagonisten dort ein wenig Stille und innere Einkehr finden lässt (wunderschön vertont vom „Adagio Religioso“ aus Béla Bartóks drittem Klavierkonzert). Die Vergeistigung und Entrückung dieses letzten Akts deutet sich natürlich schon vorher an, in Fabians Tendenz, der Welt mit einem gewissen Ekel zu begegnen (exemplarisch die Szene, in der er seinem Verleger einen eitrigen Verband wechseln muss), und der manchmal fast etwas passiven Art, sich von den politisch-moralischen Kräften seiner Zeit zerreiben zu lassen. Inmitten all dieser Dynamiken wirkt Fabian zugleich beteiligt wie unbeteiligt, dürstend sowohl nach Bindung als auch nach (moralischer) Distanz, ein Teilchen im Sturm, das sich ausprobiert und sondiert, am Ende aber im Kräftesturm zerfällt.
Über 100 Jahre alt, diskursiv so aktuell wie eh und je, in jedweder Hinsicht auf das Rudimentärste runtertranchiert mit der feinen Klinge des frühfilmischen Gestaltens. Sie ist Ärztin vertieft in der allwährenden Krankheitsforschung und nimmt aus kuppelnder Elternhand ihn, Fabrikantensohn wie zur Wonne des seligen Nichtstuns neigender Dulli, entgegen. Er kann den ganzen Ernst des Lebens, die Leere des reich gedeckten Frühstückstisches dann doch nicht so gut verkraften, saugt sich folglich am urbanen Nachtleben sowie einer einer lebensdurstigen Geliebten fest, die alsbald ein Kind erwartet. Wem obliegt in bitter verwechslungskomödiantischer, aber völlig ernst ausgespielter Zuspitzung die unangenehme Aufgage, die andere Frau durch die Müttersterblichkeit zu begleiten und drückt den entwurzelten Nachwuchs in großer Kinoversöhnungsgeste gleich samt Taugenichts ans eigne Herz? Richtig.
Nachdem Terza Visione im Jahr 2020 aufgrund der Pandemie ausgefallen ist, kehrt das Festival nun im Spätsommer 2021 mit einer Sonderausgabe zurück (Bericht dazu bei Blickpunkt: Film).
Update: Mittlerweile gibt es auch das diesjährige Festivalplakat sowie die Programmübersicht mit Zeitplan und Ticketinfos:
Auch dieses Jahr gibt es einen gesammelten Jahresrückblick bei Eskalierende Träume, der mit Listen, Texten, Bildern, GIF-Slideshows, Trailern und Musik auf das (vor allem, aber nicht nur) Kino- und Filmjahr 2020 zurückblickt.
Die meisten Beitragenden der 2019-Liste sind wieder dabei und wir freuen uns zudem über einige Neuzugänge beim Rückblick auf 2020: Björn Schmitt (Teil des Dreier-Teams hinter den neu gegründeten Tagen des experimentellen Films, die Mitte Mai 2021 in Frankfurt an den Start gehen), Frank Castenholz (Weird Magazin), Johannes Lehnen (Filmemacher) und Tilman Schumacher (critic.de).
Vorgaben zu Form, Umfang und Fokus der Beiträge gab es keine – entsprechend vielfältig ist auch diesmal die nachfolgende Sammlung geworden, was vereinzelt auch die Schreibweise bzw. Sprache der Titel betrifft.
Vor dem Start hier noch ein Einblick in das ET-Büro, wo unter schwierigen technischen Voraussetzungen die Notizen und Beiträge aufbereitet werden mussten (weshalb es immer etwas dauert, bis alles endlich in Form gebracht ist und veröffentlicht werden kann):
Aber schließlich war alles beisammen und geordnet, wobei die ersten und letzten beiden Beiträge diesmal aus (bild)dramaturgischen Gründen von der sonstigen alphabetischen Sortierung nach Vornamen abweichen. Und nun beginnt die Reise durchs Jahr…
Peter Thomas (r.) am Klavier
Zwei stilistische Fortentwicklungen eng verzahnt: Den oft feixend an den Randfasern des im deutschen Kino so wichtigen heiligen Ernstes bei der Inszenierung auch heiterer Kost operierenden Regisseur Alfred Vohrer (1914 – 1986) und den alle Bemühungen der Regie stets in angemessene Entsprechung kleidenden Filmkomponisten Peter Thomas (1925 – 2020) verband 1966 bereits eine stolze Reihe von sechs Kollaborationen in jeweils weniger als zehn Jahren beim Kino, als ersterer zweiteren endlich auch bei dem wohl größten Prestigeprojekt seiner Gesamtlaufbahn zur Seite gestellt bekam. Die Karl-May-Filme der Rialto Film gingen mit “Winnetou und sein Freund Old Firehand” in die nächste Runde, wurden jedoch zuvor im Boxenstopp merklich verjüngt. Lex Barker sowie Stewart Granger, die alternden Allzuverlässigkeiten deutscher Populärkultur, wichen von der Reihe, der attraktive Italiener Rik Battaglia wurde nach seinem reichlich Liebespost kostenden Ikonenmord im Abschluss der Winnetou-Trilogie zur heißblütigeren Version eines Westhelden befördert. Die Schurken machte man in Abweichung zum Gros der übrigen Filme zu aus schierer Bereicherungslust mordenden Desperados, rachegetriebenen Soziopathen und sogar vergnüglich-einnehmenden Antischurken.
I’ll remember it forever
The old shop near home
Jack „King“ Kirby drove me crazy
And I want you today
Comic books showed me the way
Silver Surfer, Iron Man
The Thing and Spider-Man
(Killer Barbies – Comic Books)
Auf der Leinwand spielt sich ein Kuddelmuddel überkonstrastreicher Mehrfachbelichtungen ab – streng begutachtet wird es im enthüllenden Gegenschnitt von Christoph Schlingensief, der sogleich bestimmt, einige Teile und Effekte in der Postproduktion herauszunehmen, die eigene Schöpfung im Nachgang dekonstruiert sowie anders arrangieren will. So öffnet Bettina Böhlers Portrait des vor nunmehr zehn Jahren unzeitig allen irdischen Kontroversen entrissenen Enfant Terrible; ein Vorstoß, der programmatisch ist für die sich entspinnende Herangehensweise an einen allzu bekannt Gewähnten. “Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien” beginnt und endet mit, bettet dazwischen sanft: Dekonstruktionen, materialästhetisch, inszenatorisch oder profan rekapitulierend, alles ist mehrebig und von verschiedenster Quelle. Interviews folgen intimen Interviews der Kindheit, diesen Filmausschnitte, jenen Talkrunden und multimediale Happenings, dann wird variiert und neu gemischt. Dokumentarfilm als Kartenspiel – nie weiß man, was als nächstes ausgeteilt wird. Der Schnitt aus Böhlers eigenen, vielgewandten Händen ist meisterhaft, ein Arrangement an Auszügen, die Leben und Werk Schlingensiefs in beständig wechselnde Relationen setzen. Relationen, die genauso gut gänzlich anders ausfallen könnten, das scheint ihr der Schlüssel zum Werk.
Don’t be angry – don’t be sad
Don’t sit crying over good times you’ve had
There’s a girl right next to you
And she’s just waiting for something to do
(Stephen Stills – Love the One You’re With)
Dann bleiben nur Träume auf hoher See.
So wird es stets sein, so war’s eh und je,
doch träumt nur Matrosen, denn Träume sind schön,
auch wenn sie fast nie in Erfüllung geh’n.
(Heino – Was träumen Matrosen)
In Gänze untypisch für den des über das Chronistische Hinausgehenden zumeist abholden Dokumentarregisseur Dietrich Schubert beginnt „Ein blindes Pferd darf man nicht belügen“ mit einem Reenactment, das vergleichbare Neubeschreitungen des vor Jahrzehnten bereits Durchschrittenen in „Kriegsjahre in der Eifel“ (1989) dadurch transzendiert, dass es sich bei der Protagonistin nicht um eine eigens Erlebtes aufrollende Zeitzeugin handelt, sondern Ehefrau Katharina in einer inszenierten und als ebensolche zu erkennenden Rolle. Schweren Schrittes stapft sie durch den dichten Eifler Schnee, zwei Pakete im Schlepptau – verstorbene Kinder, wie uns Erinnerungen der Zeitzeugin Therese Pützer versetzt verstehen lassen werden. Ein erhebender Moment, immer wieder regnet das sanfte Pulver von den unentwegt stapfenden Sohlen hernieder; erst im Tempo der Wirklichkeit, dann in Zeitlupe, am Ende des Filmes schließlich in Wiederholung – alpha und omega. Zerdehnung, räumliche Ausdehnung über die Vergänglichkeit des Miterlebten hinweg, das ist indikativ für diesen eigenartigen dokumentarischen Grenzgänger, der das Hinterfragen für die Dauer von 90 Minuten aus seinem Wortschatz streicht und durch die Magie des Staunens ersetzt, den jahrzehntealten Moment in die einstige Gegenwart hievt und nunmehr an das Überleben nicht eines einzelnen Menschen sondern des Filmmaterials koppelt. Auch ein Hinweisschild dafür, dass es hier nicht vorrangig um die Suche nach Antworten zu Fragestellungen von historischer Relevanz geht, sondern um ein richtiggehendes Einleben im reichhaltigen Geschichtenfundus des West-Eifler-Menschenschlages. Um Identifikation, jedoch auch derer Grenzen, auferlegt durch den Status des Zugezogenen, Nachgeborenen oder gänzlich Außenstehenden beispielsweise. Vielleicht ist dieser auch jener unter Dietrich Schuberts Filmen, mit dem der Görlitzer Flüchtlingsjunge, Seefahrer und später lange in Köln, dem nordrhein-westfälischen Nabel zur großen Welt, tätige Filmemacher endgültig zum Eifler wurde. Ein durch das Umgebende geprägter Transitionsfilm als Gegenstück wie letzter Teil einer vagen Trilogie zu den noch vermehrt an der Landschaft an sich oder deren Erschließung von außen interessierten „Ein trefflich rauh Land“ (1987) und „Das Dampfross kommt“ (1988), in dem die übergeordneten, weltlicheren Themen der Eifler Arbeiten am fernsten scheinen.
Die bislang letzte Regiearbeit des Eifler Dokumentarästheten Dietrich Schubert erreichte 2013 in einer Zeit die Leinwände, die schon zu den Ausläufern der zunehmenden sinnlichen Vereinheitlichung des Dokumentarfilmes und nahezu völligen Einstellung breitenwirksamen Dokumentarkinos aus deutscher Produktion gehörte. Was einmal die dem Experimentalfilm, seinem speziellen, vermehrt strukturell geprägten Fluss, der Form um Sub- wie Objekte, womöglich am nächsten stehende Art des Bewegtbildes war und damit Filmschaffende anzog, die wie Schubert vielfältig expressiv zwischen Experiment, Dokument sowie dem gelegentlichen Spielfilm zu wechseln vermochten, wurde Spielwiese spezifisch an einer funktionalen (Fernseh-)Ästhetik ausgebildeten Nachwuchses, dessen höchste redaktionelle Aufgabe die Thematik allein ist. Die Bildebene an und für sich wird zum Sklaven des Konzeptes, nicht seinem vielstimmig kündenden, die Gedanken weiter auffächernden Botschafter; die Zuschauenden zu weitestgehend Unmündigen, denen die Einordnung eines stilistischen Überhanges über dem kleinsten ausgeschriebenen Nenner zumeist nicht obliegt.
Irritierende Anfangssequenzen des Kinos, Abteilung vorgeblich gediegene Grusler: Ein Châteaupanorama, fern, näher, Reißschwenk nach links auf ein Männergesicht am Boden, das als ganzer Toter aus der starren Aufnahme gezogen wird, ein Schnitt gefolgt von einem sofortigen Zoom auf einen irritiert Umherschauenden auf weiter Flur, abermaliger Schnitt, beim Château fährt der Lebensmittellieferant vor und grüßt den just Entsorgten – er muss es doch sein. Nie wahrhaftig in Relationen gesetzte Impressionen, denn der einzige Spielfilm des ominösen Ferruccio Casapinta ist eines jener Geheimniswerke, welche allein diejenigen zustande bringen, die das Kino einmal als hübsche Idee unterhalten, seine Mechanismen wie von länger Verbliebenen kolportierten Erfordernisse jedoch nie mit der professionellen Bedächtigkeit des Routiniers durchblickt haben und somit unverrichteter Karriere wieder von dannen zogen.
I Have a Dream, a fantasy
To help me through, reality
And my destination, makes it worth the while
Pushin‘ through the darkness, still another mile
(ABBA – I Have a Dream)
So fangen keine wohligen Träume an: Eine junge Frau tritt an die Waldhütte heran, die ihre Schwester für ein beschwingtes Geburtstagswochenende gemietet hat. Hält einen Moment inne im bildgewordenen Unwohlsein. Um das spitz zulaufende Hüttendreieck liegen in einer Ultraweitwinkelaufnahme kleine Erhöhungen des umgebenden Waldes, die unter ihm und von Seite zu Seite bogenförmig zulaufen. Eine unnatürliche Geometrisierung der Materialität unserer Wirklichkeit, ätherisch, entrückt, märchenhaft – welches durch die Gebrüder Grimm sozialisierte Kind würde dieses Hexenhäuschen betreten wollen? Natürlich ist es ein Fehler – die Schwester hat sich einen Dämonen einverleibt, skalpiert ihr Anhängsel bei lebendigem Leibe und schon spart ein „Was zuvor geschah“ den wohl schlechten Ausgang dieses Märchens aus. Märchen? Ja, richtig gelesen. Diese Talsohle eines gekurvten Bildes, das ist der Bogen zwischen Märchen und Soziorealismus, welchen Lee Cronins den Wald und das Ländliche der Reihe erstmals zu Gunsten der großen Stadt verlassende „Evil Dead“-Fortdenkung spannt. —> MEHR LESEN
Am Ende von „The Fabelmans“ lässt Steven Spielberg seinen Kameramann Janusz Kamiński bewusst einen Moment zu auffällig den Blick anheben und setzt den unmotiviert mittig herumdümpelnden Horizont damit ins rechte Licht. Zuvor hatten sich zwei andere Regisseure, nämlich David Lynch in der abgetragenen Haut John Fords, zu einer einzigen Weisheit über das Filmemachen hinreißen lassen: Befindet sich die Horizontlinie innerhalb des oberen oder unteren Drittels der Komposition, so ist ein Bild interessant. Unmissverständlich – das ist es also, jenes Happy End, welches wir uns zweieinhalb Stunden lang sehnlichst für Sammy Fabelman herbeigewünscht haben. Eine echte beiderseitige Traumerfüllung Hollywoodschen Zuschnitts. Rags to riches für den ewigen Underdog; sie kommen noch, doch der Pfad ist bereits geebnet. Wir wissen darum. Denn man kann diese Geschichte nicht vom Lebensweg ihres Schöpfers separieren. Kein veränderter Name, kein verschobenes biografisches Detail vermag diesen Bruch zu erzeugen. Er ist auch nicht vorgesehen, allein aus dieser personellen wie narrativen Glätte kann eine verschleiert-unverschleierte Autobiografie in all ihren Implikationen frei atmen, universell werden und einen sensorischen Bruch erzeugen, der ungleich tiefer verläuft. —> MEHR LESEN
Kommt eine heiße Braut mit einem Opel Manta vorgefahren – sagt der Mantafahrer: „Oh Gott, mein Baby!“ So oder so ähnlich wohl könnte ein Mantawitz in Til Schweigers später Fortsetzung zu Wolfgangs Bülds soziokomödiantischem Klassiker „Manta Manta“ (1991) in auf der Leinwand ausgespielter Form erscheinen, wenn er den Impetus des anderen schlicht kopiert hätte. Stattdessen lässt Schweiger diesen zentralen Moment jenseits aller einer solchen Situation für Außenstehende von Natur aus inhärenten Komik völlig ernsthaft ausspielen, ist er doch im Kern um eine religiöse Göttinnenerscheinung gestrickt. Die Frage, ob es sich bei dieser um Jugendliebe Tina Ruland oder den ausgemotteten Jugendflitzer handelt, beantwortet ein Blick auf Schweigers Geburtsjahr, welches sich nie von seinem Bertie Katzbach separieren lässt. In einem gewissen Sinne ist man gemeinsam aufgewachsen. Eine Idee, aber auch eine Kontinuität in der exakten sozialen Reproduktion beider Filme, die Schweigers Rückkehr an die Quelle seines Durchbruchs zum tonangebenden deutschen Leinwandstar der letzten 30 Jahre von der ersten bis zur letzten Minute auf einer konstanten Reflektionsebene hält, die den zuletzt an den Kassen strauchelnden Regisseur wie Schauspieler und den abgehalfterten Werkstattbesitzer wie früheren Rennfahrer augenzwinkernd gleichsetzt. —> MEHR LESEN
Vor einigen Wochen versprachen wir im Rückblick auf 2021, dass unsere Bestandsaufnahme für das letzte Jahr Hand auf Fuß folgen werde. Wir wollten wieder frischer und intuitiver zu unseren Entscheidungen finden, statt ein Jahr zu brüten. Die Einschätzungen nicht zerdenken, sondern fließen lassen. Aber ein Füllhorn will auch entsprechend bestückt sein – und das braucht seine Zeit. Und überhaupt, wer hat im Listen- und Jahresauswertungsüberdruss des Dezembers und Januars noch die genussfreudige Muße, um sich von uns so richtig übergießen zu lassen? Wir denken also, dass sich das Warten gelohnt haben wird.
Vorgaben an die Teilnehmenden gab es wie immer keine, damit der beschworene jugendliche Esprit nicht in Form oder Umfang gebändigt sei. Ebenfalls wurden die alten, aber unbenommen energetischen Banner reanimiert, um unserem diesjährigen Ansatz Rechnung zu tragen. Deshalb:
Während sich vielerorts die Unsitte etabliert hat, Jahresrückblicke bereits Tage und oftmals Wochen vorher zu erstellen, bevor das Jahr überhaupt zu Ende ist, gingen wir diesmal den umgekehrten Weg und warteten nicht nur den Jahreswechsel ab, sondern auch gleich noch ein ganzes Jahr!
Daher gibt es nun Anfang 2023 endlich noch den gesammelten Jahresrückblick zu 2021 (bevor vielleicht im Laufe des Monats auch noch der zu 2022 folgt). Maßgeblich ist wie immer ausschließlich das eigene Sichtungsjahr und die einzelnen Beiträge stammen alle von Anfang 2022.
Vorgaben zu Form, Umfang und Fokus der Beiträge gab es keine – entsprechend vielfältig ist auch diesmal die nachfolgende Sammlung geworden, zum Kino- und Filmjahr, aber auch zu vielem anderen (wie bereits bei der 2020-Liste).
Victoria De Durango, Mexiko. Eine Tochter wird von Lösegelderpressern eines Kartells entführt, eine Mutter spürt ihr nach, gerät zwischen die Fronten des eskalierenden Drogenkrieges. Weitere Kreise ziehen die Ereignisse mit jedem Schritt, doch der begleitende Blick wird nicht weitläufiger – bald schon werden sie die Tochter und die Mutter. „La civil“, Teodora Mihais Spielfilmdebüt nach dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Waiting for August“ (2014), versteht diesen Mediumswechsel wie kaum ein zweiter als Chance zur formalen Reflektion und Überkreuzung. Zum inhaltsfixierten, gestalterisch indifferenten Problemfilm kann er nie reifen, denn er meidet die Abstraktion. Obwohl aus einem Dokumentarprojekt über die bereits kurz nach Planungsauftakt ermordete Mutter Miriam Rodriguez in ein gänzlich anderes Medium herübergewachsen, bleibt auch diese Geschichte stets nur die Doña Cielos (Arcelia Ramírez), die ihrer Tochter, bestenfalls noch die ihres Ex-Mannes. —> MEHR LESEN
Über Menschen, die nicht reden, und Zustände, die ihnen die Sprache nehmen, erzählt Til Schweiger so, wie man es allein nachempfindet. Visuell, unmittelbar und darin sublim. Bei just jenem berühmten Tritt zu zweit über die Türschwelle des baufälligen Landhauses, welches die Zukunft von Lena (Franziska Machens), Kurt (Til Schweiger) sowie dessen gleichnamigen, tageweise bleibenden Erstklässler aus voriger Ehe beherbergen soll, erhaschen wir jeweils einen getrennten Blick durch die Pforte auf beide. Sie links vor der Türe, er rechts; weiter links, weiter rechts daneben je eine Dopplung – die persönliche Spiegelung im Glase des Rahmens. Man könnte sagen, sie haben einen neben sich gehen – den größten Vertrauten, den intimsten Feind. Sich selbst. Näher auf die Pelle rücken wird zweiterer Kurt, denn kaum einmal zwischen Erzeuger wie Erzeugerin hin- und hergetauscht, verstirbt sein kleiner Namensvetter in einem fast dem freien Willen spottend unwahrscheinlichen Unfall auf dem schulischen Klettergerüst. Lena hingegen fällt ersterer Wiedergänger zu, sie bleibt in trauter Zweisamkeit allein zurück. Die Prämisse von Sarah Kuttners Bestseller „Kurt“ sowie Vanessa Walders und Til Schweigers Destillat daraus ist simpel – nicht jeder kennt sie aus erster Hand, doch alle fürchten sie: Was, wenn man das Kind überlebt? —> MEHR LESEN