Bericht von der Nippon Connection 2015



Es war ein heißer Sommertag. Gemeinsam betraten wir das Foyer des Frankfurter Filmmuseums (in welchem inzwischen auch die Retrospektiven des Festivals stattfinden. Dieses Jahr: Shinji Somai – aber das ist eine andere Geschichte…) und holten uns zwei Karten für die Matinee-Vorstellung. Donnerstag, 12 Uhr, Tomu Uchida.

Policeman lautete der englischsprachige Titel im Katalog. Ein japanischer Stummfilm aus den 30ern, jenem Jahrzehnt, welches manche amerikanischen Kritiker vor langer Zeit als das goldene Zeitalter des japanischen Kinos gepriesen hatten. Stummfilme hielten sich in Japan im kommerziellen Betrieb auch ein paar Jahre länger als in den USA oder in Europa, sodass es nichts außergewöhnliches war, wenn Uchida 1933 noch keine Tonfilme realisierte. Das japanische Publikum hatte sich nämlich sehr an seine Kinoerzähler (japanisch: Benshi) gewöhnt, welche die Filme nicht nur begleiteten, sondern für manche Kinos die eigentliche Hauptattraktion darstellten. Bei uns gab es solche Stars vor der Leinwand leider nicht (jedenfalls ist mir von deutschsprachigen Stummfilmerzählern aus der Frühzeit des Kinos eine derartige Popularität nicht bekannt), aber auch die Benshi in Japan konnten sich gegen das unbarmherzige Voranrücken des Tonfilms nicht zu lange wehren, und ihr Beruf begann in der zweiten Hälfte der 30er Jahre langsam auszusterben. Der Tonfilm, so schien es, benötigte keine zusätzlichen Darsteller im Kino mehr.

Die Veranstaltung auf der wir uns nun einfanden hatte es sich aber auf die Fahnen geschrieben genau diese untergegangene Tradition auch mindestens einmal im Jahr in Frankfurt wiederzubeleben. Ein Benshi aus Japan (vielleicht ein Nachkomme eines berühmten Vorgängers der Stummfilmära?) würde den Film daher live begleiten.

Als wir den Kinosaal im ersten Untergeschoss betraten, war er schon proppenvoll – die Sache hatte sich in den letzten Jahren augenscheinlich herumgesprochen und mehr als etabliert. Während wir uns immer weiter auf die Leinwand zubewegten, da überall nur noch vereinzelte Plätze frei waren, erblickte ich auch zahlreiche Freunde und Bekannte. Mitte der zweiten Reihe nahmen wir nun Platz. Der Vorhang ging auf, die Leinwand erstrahlte, und das wunderbar körnige Bild der 35mm-Kopie breitete sich vor uns aus. Der Benshi legte los.

Da ich kein Japanisch verstand, hatte ich mir eigentlich vorgenommen ihn soweit es ging zu ignorieren, doch zu meiner Überraschung schien der OmU-Hinweis im Festivalprogramm sich ganz und gar zu bewahrheiten. Denn nicht nur die Zwischentitel waren untertitelt, auch die Aussagen des Benshi wurden in englischer Sprache zeitgleich eingeblendet. Und das ziemlich gut. Jedenfalls soweit ich das zu beurteilen vermochte. Ein Stummfilmmusiker machte sich rechts von mir noch auf dem Piano zu schaffen und harmonierte ebenfalls erstaunlich gut mit dem Erzähler. Er übertönte ihn nicht.

Was wir nun geboten bekamen, war ein moralisches Drama um das Pflichtgefühl der japanischen Polizei. Verkörpert wurde diese vornehmlich durch den jungen Hauptdarsteller, welcher von seinem Leumund (ebenfalls ein Polizist) scheinbar aus einem früheren Lotterleben wieder auf die rechte Bahn geführt, und nun, so unterrichtete uns der Benshi, sogar mit dessen Tochter verlobt worden war, welche sich nichts sehnlicher wünschte, als dass dieses ruhige und in geordneten Bahnen verlaufende Leben niemals enden würde.

Wie der geneigte Leser es bereits ahnt, handelte es sich hierbei um eine von Benshi Ichiro Kataoka geschickt eingefädelte epische Vorausdeutung, denn der Rest der filmischen Erzählung sollte alles andere als ruhig verlaufen und Itamis bescheidene Verlobte nur noch eine gehobene Statistenrolle einnehmen.

In der ersten Szene des Films hatte unser Polizist bei einer Fahrzeugkontrolle einer Straßensperre seinen alten Jugendfreund wiedergetroffen, welcher aufgrund dieses schicksalhaften Zufalls seiner Verhaftung zu entkommen vermag, um den sich aber fürderhin alles drehen sollte. Der moralische Kompass Itamis gerät dabei ins wanken: die Vaterfigur wird angeschossen, das Über-Ich vorübergehend außer Kraft gesetzt. Und das ausgerechnet von seinem wiedergefundenen besten Freund. Denn Tetsuo ist ein Krimineller. Dies herauszufinden wird für Itami den Großteil des Films in Anspruch nehmen und er wird seine Zeit nun damit verbringen, sein Gewissen zu prüfen: soll er diesen Freund (seinen einzigen, scheint die Handlung uns zu suggerieren) der Macht des Gesetzes wirklich ausliefern?

Etwas befremdlich mochte dieser Erzählverlauf manchem Zuschauer vielleicht erscheinen. Statt Ermittlungsarbeiten zeigt Uchida lieber Seelenschau. Itamis Wesen wird mehr und mehr von Tetsuo vereinnahmt, die Vergangenheit bringt die Gegenwart beinahe zum Stillstand. Innere Konflikte, die der Benshi uns nicht erklären sollte. Stattdessen gab es immer wieder geflissentliche Hinweise aufs Pflichtgefühl. Zwei Filme, zum Preis von einem, sozusagen.

In seiner Konstruiertheit erinnert der Film an Melodramen, wie sie noch bis vor kurzer Zeit ob ihrer Emotionalität und Tränenrührigkeit geschätzt wurden, bevor der von Coolness und Gefühlspragmatismus geprägte Zeitgeist sie in die Mottenkiste trug. Uchidas Film hat vieles von dem, was ein solches Melodram gelungen machte, und auch ihm gelingt’s: schnell sind wir über die Skepsis an manchen krassen Zufälligkeiten hinweg, und tauchen ein in diesen Strudel, der gleich zwei Oden singt. Auf die innige Freundschaft zwischen Männern und die Selbstlosigkeit der Diensterfüllung des Polizisten.

Unser Protagonist kommt bald dahinter, dass sein ehemaliger Schulfreund dringend tatverdächtig ist: einer der Räuber wurde bei seiner Flucht vom Tatort von Itamis Ziehvater mit einer Kugel aus seiner Dienstpistole am Bein getroffen. Als Itami und Testsuo sich wiedersehen, hat letzterer ebendort eine merkwürdige Verletzung. Dies allein wäre es vielleicht noch nicht, aber eine generelle Dubiosität im Erscheinungsbild des Jugendfreundes lässt die Zweifel nicht zur Ruhe kommen. So folgt er ihm auf Schritt und Tritt und erschleicht sich durch eine List schließlich ein Feuerzeug des ehemaligen Freundes, um die Fingerbadrücke darauf mit denen eines am Tatort liegengebliebenen Säbels, dem Eigentum von Itamis nun im Krankenhaus dahinsiechender Leitfigur, zu vergleichen.

Welch ein Moment, als die Fingerabdrücke beieinander liegen – es sind die gleichen.

Meisterhaft kann Uchida die Schicksalhaftigkeit dieses Moments vermitteln. Und ebenso virtuos gestaltet ist die Verfolgungsjagd, die sich danach entspinnt, für die der Film vermeintlich sehr bekannt ist, und in deren Zuge die ganze Dynamik des Stummfilms sich offenbart. Das Ende dann vom subtil-feinsten: der Polizist legt die Hand auf die Schulter des nun Gefangenen. Strafe und Sühne zugleich. Noch nicht vergessen sind die gemeinsamen von Hardenberg-Zeiten, Jugendliche waren sie, und sich geistig so nahe, dass die zarten Körper auf dem Rasen nicht anders konnten, als sich aneinander zu schmiegen.

Eine Epopöe der Männerfreundschaft singt dieser Film, ein Lied in kraftvollem Schwarz-Weiß, begleitet vom präzis-changierenden Benshi, unvergleichlich in seiner tragischen Männerherbe. Als wir danach die Straße betreten, scheint noch immer die Sonne. Leidenschaften lassen sich nicht bannen, der Mythos des Staates geht im Mythos des Kinos unter. Die Zensur triumphiert, aber nicht in der Hose des Zuschauers. Was für ein Film!


Keisatsukan – Japan 1933 – 121 Minuten – Regie: Tomu Uchida – Produktion: Shinko Kinema – Drehbuch: Toshihiko Takeda, Eizo Yamauchi – Kamera: Soichi Aisaka – Darsteller: Eiji Nakano, Isamu Kosugi, Taisuke Matsumoto, Soji Ubukata, Shinobu Araki, Kenji Asada, Shizuko Mori, Tamako Katsura, Isao Kitaoka, Matsuko Miho, Koju Murata

Dieser Beitrag wurde am Freitag, August 14th, 2015 in den Kategorien Ältere Texte, Blog, Blogautoren, Festivals, Filmbesprechungen, Gary Vanisian, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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