100 deutsche Lieblingsfilme #71: Wir lassen uns das Singen nicht verbieten (1985)





Populäres Liedgut, Hafenkneipen, Freddy Quinn, Wochenmärkte, Rotlichtmärkte, Fisch oder Fleisch – weder noch. Tillmann Scholls großangelegter Dekadenfilm – dessen Aufnahmewurzeln noch vor seinem Filmdebüt liegen – „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ ist der seltene Dokumentarfilm ohne Wahrheitsanspruch, die Weltvermessung, die sich von ihren Objekten beständig etwas vorspielen lässt, ohne sie zwingend abschließend verstehen, durchschauen, einordnen, schlimmstenfalls katalogisieren zu müssen. Denn Scholl weiß: Man kann sie nicht begreifen, die Leut‘. Größtenteils zentriert um den kleinen – so betont er selbst gern – Hamburger Schankwirt Jürgen Henflein, der beschäftigt hinterm Tresen des „Schauermann“ Bezugspunkt für die Ausgestoßenen St. Paulis und die in deren Welt eintauchende Kamera gleichermaßen darstellt. Darstellt. „Nicht ganz hässlich“ sei er, hält er einmal, dann längst arbeitslos geworden, fest, bisschen pfiffig, einer, der schon durchkommt. Seine Position beruht auf Rollenverteilungen, weniger auf ökonomischen oder gesellschaftlichen Erwägungen, Realitäten, Privilegien. Irgendwie ist er halt an diese Stellung gekommen, er, einer von denen da – daran gibt es nie Zweifel.

Anderswo melden sich welche an. Zwischen Musik, Tänzchen und Reden, für die ein „obdachloser Penner“ mit seinem Namen steht, taumelt einer besoffen umher, lacht, schlägt ungelenke Pirouetten, dann auf dem Boden auf. Der spiele nur etwas vor, gibt Scholl selbst zu bedenken, ihm zuliebe, jedoch auch als Mahnung gegen unser Bild der Gescheiterten. Ein einmaliger auktorialer Warnschuss, den zweiten gibt’s von Jürgen, der die magischen Worte in den Mund nimmt. „Diese Inszenierung“ – damit meint er jene Geldübergabe mit seinem Brötchengeber, die man unmittelbar zuvor für just diesen Einschub unterbrochen hat und nun unter abgewandelten Vorzeichen fortsetzt. Der Chef ist gar kein Chef, sondern ein Darsteller, sein Auftritt Ersatz für den, der es nicht mehr nötig hat, Gesicht zu zeigen. Zwei dezidiert gestellte Begebenheiten, eine ungewisse dritte – der Abspann nennt einen weiteren Schauspieler in der Rolle einer lediglich kurz einmal aufgerufenen Nachteule namens „Django“. Man muss sich bisweilen was vormachen im Leben. Tillmann weiß und reflektiert es in seiner eigenen Inszenierung der anderen, Jürgen weiß es, der Großbetreiber, der festhält, in seinen Betrieben sei noch nie jemand zum Säufer geworden, weiß es auch – denn natürlich glaubt er längst selbst, was er da behauptet.

„Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ ist ein raffiniertes Pyramidensystem von Erkenntnis und Reflektion, in seiner verwobenen, non-linearen Struktur lernen wir von dem Selbstbild der Menschen oder aber der Stufe in diesen Prozessen, auf der sie nie ankommen konnten. Retroaktive Todesenthüllungen reißen Unikate aus einem lebensprallen Fluss, an dem wir gerade noch mit Gusto angelten, sein Ende schlimm-schmerzender als jeder schockierende Twist im Kino. In solchen Momenten der Pein ist auch der filmische Schwebezustand zuverlässig am größten. Entrückt tanzt die Liliputanerin „Krümel“ noch einaml über den klebrigen Boden des Schauermanns, da wissen wir schon längst, dass sie das Ende ihrer Lebenswelt nie erlebte. Tot von der Bank gefallen; die Zeit bleibt nicht stehn, da kann man sie noch so sehr verdrehn. Nicht so Jürgen. Der hält real talk, während das eigene Bezugssytem in Trümmern unter den Sohlen knirscht – über sein Leben und das der Leidensgenossen, Wünsche, Träume, Hoffnungen. Derart offen spricht er nur ein einziges Mal, nie davor und nicht mehr danach. Der Aufbruch der Perspektive spielt ein, vor- wie hinter der Kamera, so panoramisch wie in der Leerstelle des Abrisses filmt Scholl nur selten. Ganz nah dran zelebriert sie ansonsten die Musikalität, wirbelt und prallt sie vor verlebte Gesichter, pfeift sie gemeinsam mit dem offenkundig krebskranken Raucher aus dem jüngsten Loch am Halse.

Es nützt alles nichts, außerhalb des untertan gemachten bis gewähnten Raumes herrschen andere Gesetzmäßigkeiten. Drei Mal sehen wir Jürgen noch wieder: Humoriges einwerfend, aber den Tresen nicht mehr dominierend beim Versuch, in der Kleinstschenke Berni Ficks an eine Anstellung zu kommen. Am Vibrostampfer im Straßenbau, solide will er nun nach Eigenauskunft werden. Auf den Meilen der Stadt dann eine letzte Begegnung, Jürgen mit seiner neuen Freundin, er scherzt noch mehr als üblich, eine Verletztlichkeitsahnung liegt in der Luft – sind das da winzige Risse in der Fassade? All dies packt Scholl zwischen eine zweifellos aufrichtige, aber auch durch den verspielten Widerhall einzelner Schlagworte auf der Tonspur gezielt als solche preisgegebene Kritik an strukturellen Umbrüchen im Hamburg der 70er und 80er Jahre. Dennoch wäre es kurzsichtig, seinen Film auf Gentrifizierung zu reduzieren. „Wir lassen uns das Singen nicht verbieten“ beschönigt nicht, klagt nicht an, verhält sich dennoch parteiisch zum Lebensdurst und ist nie strikt journalistisch. Vielmehr ein Essay über das ganze Drama der menschlichen Existenz und dass er so viel aus diesen längst vergessenen Menschen herausschälen kann, verdankt er nicht zuletzt ebendieser Gentrifizierung, die ihre Geschicke verkehrt. Doch auch hier, ganz im eigenen Weltwahrnehmen, macht Scholl sich nichts vor. Es ist eine andere Form von Wahrheit, die aus seiner Bestandsaufnahme klingt, jene bitter-reine Wahrhaftigkeit, die rauskommt, wenn man darum weiß, dass sich der Lauf der Welt nicht alleine mit der Kamera drehen lässt.


Wir lassen uns das Singen nicht verbieten – BRD 1985 – 85 Minuten – Regie: Tillmann Scholl – Produktion: Tillmann Scholl – Drehbuch: Tillmann Scholl – Kamera: Tillmann Scholl – Schnitt: Tillmann Scholl – Musik: ? – Mitwirkende: Jürgen Henflein, Berni Fick, „Krümel“, „Pummel“, Freddy Quinn u.v.a.

[Titelbild: Tillmann Scholl (l.) mit Jürgen Henflein, 80er Jahre]

Mit gesondertem Dank an Leon Jurdzinski, Frank Kraft, Kai Krick sowie vor allem Carolin Weidner, die durch Gespräche nicht unerheblich zur Verfestigung und Strukturierung des Gedankenstromes beitrugen!

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, Dezember 10th, 2019 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

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