100 deutsche Lieblingsfilme #66: Marschier oder krepier (1962)





Ein letztes Aufbäumen des deutschen Expressionismus – wie prächtig aufblitzende, allzu bald jedoch schon wieder zu verglimmende Sternschnuppen segeln Stewart Grangers Männer in totenstiller Wüstennacht am Fallschirm dem weichen Boden entgegen. Aufgereiht wie die Glieder einer Kette, einer rigiden Richtschnur vielmehr, gleich einer Übertragung des Wasserballettes in die Lüfte. Fausto Tozzi, der getroffen in Richtung Kamera tänzelt, fällt, sich aufrappelt, den Schmerz aus seinem Gesicht wischt, wieder und wieder von vorn, bis ihm eine letzte Salve unbekannter Hand endlich den Garaus macht. Dem Kampf geht in Frank Wisbars vorletztem Kinofilm jegliche Satisfaktion ab, seine wie in den Kriegsfilmen Sam Fullers zumeist unsichtbaren Feinde sind nie Anlass heroischer Körperverschmelzung im Ringen Mann gegen Mann, stets eine außerhalb der Kadrage wütende, die Menschengeschicke darin indes lenkende Urkraft. Für den die zeitlebens miterlebten Kriege offenkundig müden Wisbar ist der Konflikt nichts als ein Reigen determinierter Ereignisse. Peter Carsten, dem der Enthusiasmus für die Zunkunft die Vorsicht raubt, Riccardo Garrone, der große zweifelnde Gaukler, dem in der Fürsorge für seine ihn im Sterben umringenden Kameraden endlich wieder sein Gott erscheint, bevor die Kugeln ihm den Rücken zerfetzen.

Häuptling dieser verlorenen Seelen – Stewart Granger, der britische Silberfuchs, ein Mann von altväterlichem Leuchten, einer imposanten Statur, die Cecilio Paniagua in kaum quantifizierbaren Aufnahmen immer und ewig ausspielt. Sie ist Wisbars Film eigen, die Faszination für den großen Mann, den Macher, der seine Untergebenen durch das Brachland menschlicher wie göttlicher Schlechtigkeit führt und doch bricht sie wie ein unvermeidbar dem Boden entgegenrasender Spiegel in einen Regen der Fragmente, kleiner Grangers im überlebensgroßen Korpus. Den, dem der Mut abgeht, einen wahrhaftig ans Kreuz geschlagenen Legionär kraft seiner bereits autoritär den Lauf reckenden MP zu erlösen, den, dem im Augenblick höchster Schwäche an der mitgeschmuggelten Schnapspulle nuckelnd die Gnade im Blick seiner Männer zuteilwird, den, der sich nach der Rückkehr einen neuen kleinen Sohn suchen muss, um mit ihm wie dereinst John Wayne stoischen Schrittes zurück in die Wüste zu schreiten, der Zivilisation den Rücken zu kehren – dieses Mal wohl für immer. Doch was ist er wert, der Vater, der am Ende ohne seine Erstgeborenen dasteht, seiner Verantwortung nicht gerecht wurde?

Mehr als die unfreiwillig aus dem Einsatzgebiet mitgekarrte Rabenteammutti in Form einer Prostituierten (Dorian Gray), die nie lernen durfte, sich als mehr denn die Summe ihrer Kosmetikfläschchen zu sehen, den diese umschließenden Koffer noch im Tode fester umklammert hält als ihre bereits unaufhaltsam aus dem Körper weichende Seele? All diese Fragen wirft Wisbars Film auf und entzieht sich – in für ein in unserer Moderne sensibilisiertes Pubklikum unerträglich stiller Ambivalenz verharrend – doch jeder abschließenden Antwort. Expressionismus, Pflichterfüllung, Gottesfurcht – „Marschier oder krepier“ war schon zur Zeit seiner Konzeption kein zeitgenössischer Film mehr, wurde ein fürwahr vorausorakelbarer Flop und doch stellt er sich vielen existentiellen Problemen mutiger, als so mancher Antikriegskollege vergleichbaren Baujahres es tat, bleibt er ein unbesehenes Unikum, das vom Heimkino nach wie vor unbeleckt in Erwartung neuer Augenpaare ruht. Vielleicht sollen es die letzten Augenpaare sein, bevor sich diese in beispiellos matt glimmendem Schwarz-Weiß beschlagene Schatztruhe, ganz wie die trüben Menschenschicksale in ihr, für immer dem menschlichen Zugriff entziehen wird.


Marschier oder krepier – Belgien, BRD, Italien, Spanien 1962 – 99 Minuten – Regie: Frank Wisbar – Produktion: Willy Zeyn – Drehbuch: William Demby, Mino Guerrini, Milton Krims, Giuseppe Mangione, Arturo Tofanelli, Frank Wisbar – Kamera: Cecilio Paniagua – Schnitt: Mario Serandrei – Musik: Angelo Francesco Lavagnino, Nini Rosso („Concerto Disperato“) – Darsteller: Stewart Granger, Dorian Gray, Riccardo Garrone, Peter Carsten, Leo Anchóriz u.v.a.

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, Juli 10th, 2019 in den Kategorien Ältere Texte, André Malberg, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

Eine Antwort zu “100 deutsche Lieblingsfilme #66: Marschier oder krepier (1962)”

  1. Filmforum Bremen » Das Bloggen der Anderen (15-07-19) on Juli 15th, 2019 at 17:09

    […] schreibt auf Eskalierende Träume in der Kolumne „100 deutsche Lieblingsfilme“ über Frank Wisbars letzten Film: „Marschier oder krepier“ von […]

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