100 Deutsche Lieblingsfilme #30: Weiße Lilien (2007)



Weisse Lilien

His life’s final offer,
cut-price salvation ain’t at no level.
Lead me not into temptation.
I, church of truth, sell three steps to heaven,
suburban essentials, blemish-twisted patterns.
Don’t make me buy your apples of Sodom,
those fruits are bitter-strange and rotten.“

Weiße Lilien (2007)

Neustadt, die Stadt der Zukunft, eine grauenerregende Ansammlung von Betonklötzen mit 25 000 wohnlichen Grabkammern, deren Bewohner hier art- und klassengerecht verstaut und verwaltet werden können. Unter ihnen Hannah Schreiber (Brigitte Hobmeier), dieses filigrane rothaarige schüchtern-zaghafte Geschöpf, eine Mimose möchte man zunächst meinen, die sich im Grunde mit ihrem Posten als Telefonistin des Sicherheitsdienstes von Neustadt bescheidet, und wohl weiterhin fortfahren würde, all ihre eventuellen tieferliegenden Sehnsüchte – nach Liebe, Selbstbewusstsein, Transzendenz und Derartigem – in die Lektüre von Romanen und damit ins Fiktionale auszulagern, wäre da nicht ihr grenzpsychopathischer Mann Branco (Xaver Hutter), ebenfalls Angestellter des Sicherheitsdienstes mit Hang zur Gewalt, hartem Sex und ausgeprägtem Bücherhass, dessen Ausbrüche selbst Hannah zum Handeln zwingen.

Fürsorglich um sie bemüht, schenkt Hannahs beste Freundin Paula ihr dann auch erstmal einen Baseballschläger und verschafft ihr schließlich eine andere Wohnung im angesehenen 11. Stock, wo sonst nur Bessergestellte leben. Dass sich deren Vormieterin erst vor Kurzem in den Tod gestürzt hat, kümmert Hannah weiter nicht. Diesen glorios überhöhten Sturz, der ein Beet voll weißer Lilien mit zarten roten Sprenkeln verziert, hat der Zuschauer bereits in der durch gleitende Kamera und präzisen Schnitt durchstilisierterten und von dunkel orakelndem Jazzgesang (siehe Zitat) untermalten Anfangssequenz, die für mich wie ein Versprechen war, das der Rest des Films dann konsequent einlöste.

Denn was nun folgt ist eine virtuose Kaskade aus wild wuchernden und an allen Enden ausfransenden narrativen Verschraubungen, die sich in wechselweise beklemmend eisigen, melancholischen und grotesk komischen Vexierbildern entlädt. Hannah gerät in einen für sie mental eher ungesunden Strudel aus verschwörerischen Machtintrigen, sektenhaften Selbstwert- und Gemeinschaftsbeschwörungen und (vermeintlichen?) terroristischen Aktivitäten in Neustadt, bis sie selbst nicht mehr weiß, wem sie trauen kann. Das ist thematisch sicher keine Erfindung des Rades und der dystopisch gebildete Zuschauer wird hier mehr als einmal Froschs ästhetische Referenzen, wie Kafka und Orwell sowie was Film betrifft wahrscheinlich Lynch herausschnuppern, dabei gerät der Film jedoch niemals in die Gefahr uninspirierten Epigonentums.

WEISSE LILIEN ist dank Froschs Einfallsreichtum und Hang zum genialisch verschnörkelten Erzählornament ein gänzlich originärer Trip in eine mit dämonisch durch die Flure und Wohnungen, Büro- und Freizeiträume des Betonmolochs schlurfender Steadycam gefilmte Hölle. Frosch beherrscht ausgezeichnet das Spiel mit den atmosphärischen Kontrasten, lässt Unheimliches ins Komische kippen und Komisches ins Tragische, dabei immer eifrig semantische Hinweise auf Dies oder Jenes säend, die sich letztlich elegant im Dunkel verlieren, wie in einem riesigen Treppenhaus verhallende Worte.

Die zunehmend labyrinthischer werdende Figurendynamik wird zum Ende hin durch eine Art Doppel- oder Dreifachtwist – so genau kann man das nicht mehr sagen – auf die Spitze getrieben. Wie schon in DIE TOTALE THERAPIE lässt Christian Frosch seine Geschichte souverän bei voller Fahrt entgleisen und in apokalyptische Eskalation münden, nur um sie dann plötzlich in einem letzten erzählerischen Salto Mortale in rätselhaftem Frieden ausklingen zu lassen. Und jetzt für alle, die nicht ohne können: eine wichtige moralische Botschaft hat der Film auch in petto: „Wir müssen zusammen halten!

WEISSE LILIEN – Österreich / Deutschland / Luxemburg / Ungarn 2007 – 96 Minuten – KGP Kranzelbinder Gabriele Production u.A.

Regie: Christian Frosch – Buch: Christian Frosch – Produktion: Alexander Dumreicher-Ivanceanu, Gabriele Kranzelbinder – Kamera: Busso von Müller – Schnitt: Michael Palm – Musik: Andreas Ockert – Darsteller: Brigitte Hobmeier, Johanna Wokalek, Martin Wuttke, Xaver Hutter, Erni Mangold, Gabriel Barylli, Walfriede Schmitt, Günther Kaufmann

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, September 21st, 2011 in den Kategorien Alexander Schmidt, Blog, Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

2 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #30: Weiße Lilien (2007)”

  1. Sano Cestnik on September 29th, 2011 at 15:04

    Du hast es nicht anders gewollt: habe mir jetzt die deutsche DVD von WEISSE LILIEN (inklusive Audiokommentar des Herrn Frosch!) gekauft, und werde mir diesen Schangelexzess demnächst wieder zuführen. Mal schauen was eine zweite Sichtung so an zusätzlichen Eindrücken ergibt. 🙂

  2. Alexander S. on September 29th, 2011 at 15:49

    Das freut mich außerordentlich! Mal sehen ob es dann das zweite mal fruchtet… 😉
    Ich habe gestern einen deiner deutschen Lieblingsfilme gesehen, der mir leider nicht so viel gegeben hat, aber dazu gibt’s später noch einen Kommentar!

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