100 Deutsche Lieblingsfilme #29: Regine (1934)



Das Reizvolle am Übergang von der Stummfilmzeit zum Tonfilm sind für mich die stilistischen Umbrüche, das Ungeschickte und Unfertige, welches man in den Filmen Ende der 20er und Anfang der 30er oft zu entdecken meint. Der Zwang, aber auch das Interesse, sich um neue Arten der Filmsprache zu bemühen, und der Versuch Eigenschaften des stummen Films in den Sprechenden zu überführen. Regine ist auf den ersten Blick so ein Film. Jedoch nur auf den ersten. Denn wir schreiben bereits das Jahr 1935, und auf dem Regiestuhl sitzt mit Erich Waschneck ein echter Meister, der nichts dem Zufall überlässt, bzw. diesen immer seinen eigenen Zwecken zuzuführen versteht. Am ehesten erinnerte mich das alles an Boris Barnets Okraina (1933), einen Film der ebenso präzise wie freimütig mit seinen Einfällen zu jonglieren versteht, und dem innerhalb des Ganzen immer wieder einzelne Miniaturen gelingen, die dem Zuschauer jedes Mal aufs Neue das Gefühl verleihen einem Zauberkunststück beizuwohnen. Das vermeintlich Leichte und Einfache ist aber oft mit dem größten Aufwand verbunden und der Eindruck von Spontaneität verdankt sich meist intensiver Arbeit.

Was mich bei Regine vor allem beeindruck hat, waren – ähnlich wie bei Waschnecks früherem Film Die Carmen von St. Pauli – die zahlreichen Stimmungs- und Stilwechsel. Die Szenen changieren zwischen Melodramatischem und Naturalistischem, zwischen Überzeichnetem und Spontanem, ohne sich klar gegeneinander abzugrenzen. Genres werden ebenso wie Schauplätze durchmischt, wobei es nicht bloß um ein Nebeneinander, eine Addition von Effekten, sondern ein Ineinanderschieben verschiedener Stimmungen und Tempi geht, um eine Dialektik des Films in der die unterschiedlichsten Ebenen und Ausdrücke miteinander zu kommunizieren beginnen. Regine hat dabei durchgängig seinen eigenen sehr spezifischen Rhythmus, der einerseits auf die Figuren abgestimmt ist und von Ihnen ausgeht, andererseits aber auch eine starke Prägung des Regisseurs aufweist. Es gibt Verwicklungen, Auflösungen, Verstrickungen, Verwebungen, um wieder und wieder neue Affektsituationen hervorzuzaubern. Und wie in einem Detektivroman strebt alles einer Auflösung zu, die sich erst zum Schluß offenbart. Der Zuschauer weiß bei Waschneck dabei jedoch immer mehr als die Figuren, wodurch das von Hitchcock so vielfach beschworene Moment des Suspense über dem ganzen Film zu schweben scheint. Was Waschneck betreibt ist ein freier Umgang mit den Möglichkeiten des Kinos, die er wie in einer Symphonie mit der Dynamik, mit den Sätzen, innerhalb der Reihenfolge anordnet, die ihm zusagt. Dabei überkommt einen beizeiten das Gefühl dem Dirigenten bei der Ausführung der Komposition beizuwohnen, zu erkennen wie er in einer Szene den Schauspielern aufträgt zu improvisieren, oder in einer anderen den Kameramann noch ein wenig länger auf einer Geste zu verweilen anweist. Sein Interesse gilt dabei jederzeit dem Schnitt ebenso wie dem Schauspiel, der Kadrierung ebenso wie dem Schwenk, auf vorsichtige Plan- folgen schwungvolle Montagesequenzen, und das sorgsam eingefangene Detail ist genauso wichtig wie der rasche Überblick. Diese Sorgfalt und Präzision, die eigentlich bei jedem Film eine Selbstverständlichkeit sein sollte, überrascht einen dann aber eben doch, wenn man sie in einer durchdachten Form wiederfindet die sich selbst nicht ausstellt. Denn im Prinzip könnte man zunächst sagen Regine sei ein typischer Vertreter des UFA-Stils der 30er, dem Versuch es dem Hollywoodfilm und seinem Illusionskino der unsichtbaren Montage gleichzutun. Was er aber wirklich darstellt ist eine heutzutage außergewöhnlich scheinende Eigenheit, die lediglich nicht mehr mit den gängigen Weisheiten über das „typische“ Kino der 30er Jahre übereinstimmt. Als genauso typisch erweist sich aus heutiger Sicht nämlich immer mehr das Experiment, die Leidenschaft und das Interesse an filmischen Formen und den allgemeinen Möglichkeiten des Lebens und der Phantasie. Und dass manche Filmemacher in den damaligen kommunistischen wie faschistischen Diktaturen, trotz allem Wandel der Kulturpolitik, während der 30er teilweise dort weitergemacht haben wo sie in den 20ern angefangen hatten.

Regine – Deutschland 1934 – 105 Minuten – Regie und Drehbuch (nach einer Vorlage von Gottfried Keller): Erich Waschneck – Produktionsfirma: Fanal-Filmproduktion GmbH (Berlin) – Kamera: Werner Brandes – Schnitt: Wolfgang Loë-Bagier – Musik: Clemens Schmalstich – Darsteller: Luise Ullrich, Adolf Wohlbrück, Olga Tschechowa, Ekkehard Arendt, Hans Junkermann, Eduard von Winterstein, Hans Adalbert Schlettow, Julia Serda, Olga Engl

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10 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #29: Regine (1934)”

  1. Schwanenmeister on September 10th, 2011 at 14:40

    Erich Waschnek, der Meister-Regisseur von „Die Rothschilds“ … 😉

    Fasziniert mich, deine Wahl! Ist mir, soweit ich mich spontan zurückerinnere, noch nicht bewusst in der Sekundärliteratur begegnet. Gerade bei Hull nachgelesen, dass „Regine“ sogar damals in Venedig lief. Rentschler ordnet ihn aber nach seinem Kinostart (Januar 1935) ein Jahr weiter ein. Wenn man sich nur einmal den Cast ansieht (Ullrich, Wohlbrück, Tschechowa) und worauf das Drehbuch basiert (Gottfried Keller, „Kleider machen Leute“), wundert es mich zumindest ein bisschen, dass ich noch nicht großartig darüber gestolpert bin. Bei grob geschätzt tausend Nazi-Filmen verliert man aber auch schnell den Überblick.

    Mich würde vor allem interessieren, wie du auf „Regine“ gestoßen bist und ob das eine spezielle Kinovorführung war oder der Film auch käuflich zu erwerben ist?

  2. Sano Cestnik on September 10th, 2011 at 21:17

    Zunächst einmal: DIE ROTHSCHILDS habe ich noch nicht gesehen. 😉

    Waschneck habe ich durch eine Projektion von DIE CARMEN VON ST. PAULI auf den Erlanger StummFilmMusikTagen 2010 kennen und schätzen gelernt. Daher auch meine Besprechung als Nummer 7 der Lieblingsfilmreihe. Daraufhin habe ich ein wenig Ausschau nach seinen Filmen gehalten, und mit der Zeit zahlt sich sowas dann immer aus (ich bin bei solchen Sachen generell nicht ungeduldig, und kann auch mehrere Jahre warten). Vor REGINE habe ich noch den ebenfalls beeindruckenden FRÄULEIN (1939) mit der umwerfenden Ilse Werner in der Titelrolle gesehen, diesmal im Murnau-Filmtheater in Wiesbaden (wo regelmäßig Filme der 30er von 35mm Kopien gezeigt werden). Was mir bei diesen drei bisher von Waschneck gesehenen Filmen am meisten imponiert hat, ist die hervorragende Schauspielführung der drei titelgebenden Protagonistinnen. Ich bin jedesmal hin und weg und restlos begeistert, wobei diese drei Figuren völlig unterschiedlich gezeichnet sind, unterschiedlich gespielt werden, und unterschiedlichen Milieus entstammen. Wobei aber auch grundsätzlich das Schauspiel beeindruckt (Wohlbrück in REGINE ist ebenfalls eine Augenweide). Tut mit Leid, ich kann gerade nichts besseres schreiben, als dieses schwammige herumgeeier – schwer auf den Punkt zu bekommen die spezifischen Qualitäten. Kann nur empfehlen sich diese drei Filme mal hintereinander anzusehen; auch wenn sie sehr schwer zu sehen/kriegen sind. Soweit ich weiß ist von Waschneck (bisher) nur DIE GÖTTLICHE JETTE auf DVD erschienen, und auf VHS gibt es noch DREI TAGE ANGST und DIE AFFÄRE ROEDERN zu entdecken. Also alles etwas mager.

    REGINE stammt wahrscheinlich leider nur aus einschlägig bekannten Internetportalen. Ich habe mir den Film ausgeliehen und die Qualität deckt sich mit den Screenshots die im Internet zu finden sind. Geht im Vergleich zu anderen Waschneck-Sachen die man sich besorgen kann noch ganz gut, wobei aber das Bild leider auf allen 4 Seiten leicht beschnitten zu sein scheint. Ich hoffe den Film irgendwann auch mal im Kino sehen zu dürfen. Den Screenshot über dem Text habe ich übrigens selbst gemacht. Dass das Drehbuch auf Keller basiert, habe ich bei REGINE erst beim übertragen der Stabsangaben vom Filmportal gemerkt. 🙂 Der Film selbst ist alles andere als eine „Literaturverfilmung“ und spielt auch in den 30ern. Werde mir das Buch/Stück deshalb bei Gelegenheit besorgen, da ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass Keller etwas ähnliches geschrieben haben könnte. Aber wir werden sehen. Bei Angaben von Jahreszahlen orientiere ich mich grundsätzlich nach den Daten auf den Kopien, also dem Copyright, oder wie in diesem Fall nach der Zensurabnahme, die auf filmportal.de mit dem 20.11.1934 angegeben ist. Mich interessiert bei einem Film grundsätzlich erst einmal wann er fertig gestellt wurde, nicht wann er Premiere hatte. Andere richten sich meist nach Uraufführungsdaten, dem Produktionszeitraum oder was auch immer. Ein Jahr an einen Film zu heften ist ja immer so eine Sache, die je nach Methode anders ausfallen muss. Ich habe da eben meine. Und die anderen Autoren von Eskalierende Träume wieder ihre eigenen.

    Was die Nazifilme angeht bin ich immer noch dabei mich an die Spitze des Eisbergs heranzutasten. Ein paar Bücher und ein paar Filme habe ich dabei schon ins Auge gefasst, aber es wird wohl noch Jahre dauern, bis ich mich in der Masse von Filmen einigermaßen werde zurechtfinden können. Waschneck ist hier meine erste Entdeckung. Und ich hege den Verdacht, dass mir die Filme von Karl Heinz Martin ebenso gut gefallen könnten. Ist aber zur Zeit noch reine Vermutung.

    Was kannst du denn aus der Zeit empfehlen? Ich glaube aus deinem Kommentar eine gewisse Vertrautheit (oder zumindest eine Tendenz dahingehend) herauslesen zu können. 😀

  3. Schwanenmeister on September 11th, 2011 at 13:11

    „Die Rothschilds“ habe ich übrigens auch noch nicht gesehen, weil der allgemeinhin als schlechteste der offen antisemitischen Propagandafilme galt. Quasi der „SA Mann Brand“ des Zweiten Weltkriegs. Umso verwunderte war ich ja, dessen Regisseur bei dir als Meister wiederzutreffen, wobei sich die Hände mit einem tendenziösen Staatsauftragsfilm schmutzig gemacht zu haben, überhaupt nicht dafür spricht, dass der Regisseur vorher nur Grütze gedreht haben muss. Das Gegenteil ist eher der Fall. Aber daran erinnere ich mich erst immer wieder, wenn ich in der Materie drin bin.

    Die Luise Ullrich-Reihe im Murnau-Filmtheater ist ja erlesen. Toller Tipp! Und danke für die Hintergründe. Zu Karl Heinz Martin kann ich nichts beisteuern; kenne nicht einmal den von ihn gescripteten „Berlin Alexanderplatz“. Und du liest richtig zwischen den Zeilen. Neben der German Sexploitation sind die Filme im Dritten Reich mein absolutes Steckenpferd geworden, was die deutsche Filmgeschichte betrifft. Aber da bin ich nicht allein. Euer Alex P. war da auch in den letzten Jahren engagiert unterwegs. Und wie ich gelesen habe, entdeckt Christoph gerade meine Jahresentdeckung Werner Hochbaum in „einschlägig bekannten Internetprotalen“. Meine Anreize wären: Wenn du schon bei Gottfried Keller bist, unbedingt „Kleider machen Leute“ ausprobieren. Dann hast du die unwiderstehliche Filmografie Helmut Käutners in den 1930er und 1940er-Jahren vor dir. Und besagter Werner Hochbaum hat zwei Mal mit Luise Ullrich zusammengearbeitet („Schatten der Vergangenheit“, „Vorstadtvariete“), jeweils kleine Meisterwerke. Na ja und Adolf Wohlbrück, bevor er sich Anton Walbrook nannte – das sind mit die größten Schätze der deutschen Filmgeschichte. Also nur ran!

  4. Sano Cestnik on September 13th, 2011 at 10:11

    Apropos Staatsauftragsfilm-Regisseure. Habe demletzt auch einen tollen Film von Wolfgang Liebeneiner gesehen: GROßSTADTMELODIE (1943). Kurz darauf dann aber auch den um ein vielfaches verkrampfteren FRANZISKA (1957), dass Remake eines 40er Jahre Käutners.

    Von Käutner kenne ich aus den 40ern übrigens zumindest schon mal 4 Filme, (zufällig auch alle im Kino gesehen): ANUSCHKA (1942), WIR MACHEN MUSIK (1942), ROMANZE IN MOLL (1943) und GROßE FREIHEIT NR.7 (1944), wobei mir die beiden Filme von ’42 am besten gefallen, und es in dieser Reihe von mir vielleicht einen Text zu WIR MACHEN MUSIK geben wird. Und KLEIDER MACHEN LEUTE sowie AUF WIEDERSEHEN, FRANZISKA! warten auf DVD zu Hause. 😀 Käutner ist in der Tat umwerfend, wobei mein momentaner Favorit BILDNIS EINER UNBEKANNTEN wäre.

    Bezüglich der Nazizeit hatte ich ja die letzten Jahre die Vermutung gehegt, dass sich unter den unzähligen Produktionen doch ein wenig mehr sehenswerte Filme befinden müssten, als allgemein (in Deutschland) behauptet. Dass dem so ist, hat mich inzwischen auch in Nullkommanichts zum begeisterten Befürworter des deutschen Tonfilms werden lassen. Und Werner Hochbaum steht dabei dank Christophs Begeisterungsstürmen (und vieler weiterer Stimmen, wie der deinen) ganz oben auf der imaginären Sichtungsliste. Ich glaube Eskalierende Träume entdeckt nach der German Sexploitation nun auch diese Phase der deutschen Filmgeschichte für sich. 😉 Als nächstes kommt dann eventuell der Heimatfilm der 50er, den unser Erkundungsfreudiger Alex P. schon vor einiger Zeit für uns „vorsondiert“ hat, und in den ich mich in naher Zukunft auch ein wenig zu versenken gedenke. Erste zaghafte Vorstöße in dieser Richtung haben meinem neugierigen Blick mit Matthias Müllers atemberaubender jüngster Heimatfilm-Installation und Alfons Stummers österreichischem ECHO DER BERGE bereits Eindrucksvolles vermittln können. Ich glaube meine Begeisterung für den deutschen Film hat ihren Zenith daher noch längst nicht erreicht. 🙂

  5. Schwanenmeister on September 22nd, 2011 at 00:16

    Abgesehen von „Der Mustergatte“ finde ich Liebeneiner auch nicht so spannend. Ach ja, seine „Trapp-Familie“ mit der gestrengen Ruth Leuwerik ist noch ganz toll. Kenne aber auch zu wenig. Bin ebenso großer Fan des Nachkriegs-Käutner wie du. Nur: Gegen seine drei 1940er-Meisterwerke am Stück verblasst doch alles etwas. Und ich bin großer, großer Fan von „Kitty und die Weltkonferenz“. Wer herausragende deutsche Screwball Comedies sucht, wird da fündig. Und wenn dich die deutschen Tonfilme endlich gepackt haben, seien dir auch die Weimarer Spielfilme sehr ans Herz gelegt. Die schaue ich aktuell, wenn ich mich denn mal wieder motivieren kann und die Muße finde, fast noch einen Ticken lieber als die Filme des Dritten Reiches. Gerade die Billie Wilder-Drehbücher haben es mir da angetan. Unglaublich!

  6. Sano Cestnik on September 22nd, 2011 at 15:35

    Das Weimarer Kino habe ich jetzt völlig unabsichtlich „weggelassen“. Wollte natürlich eher allgemein vom deutschen Tonfilm reden, bei dem ich inzwischen eher dazu neige Änderungen in kleineren jährlichen Schritten zu sehen, als solch große Zäsuren wie z.B. Weimarer Kino/Nazi Kino zu setzen. Zumindest wenn man die Filme die gedreht wurden betrachtet (im Gegensatz zu überlegungen zu Filmen die nicht (mehr) gedreht wurden/werden durften).

    Also der Einfachheit halber: deutscher Tonfilm. Wobei ich auch großer Stummfilmfaan bin. Ach egal. Es ist ja ALLES interessant!

    Habe gerade ein wenig nach Wilder geschaut. Was hast du denn von seinen deutschen Sachen gesehen?

    Kennst du übrigens irgendwelche österreichischen „Emigranten-Filme“ (ca. ’33 – ’36 von aus Deutschland geflohenen gedreht)? Habe einen tollen Artikel zu gelesen, und würde gerne was davon sehen (österreichisches Kino ist aber sowieso Neuland für mich). Erwähnt wurden u.a. Max Neufeld, Richard Oswald, Walter Reisch (und auch Werner Hochbaum 😉 ).

  7. Schwanenmeister on September 28th, 2011 at 20:03

    Walter Reisch, den ich auch eigentlich bei den unglaublichen Weimarer Drehbüchern meinte und nicht Wilder, wobei der zumindest einige sehr interessante Sachen schrieb und ein Meisterwerk, hat doch erst ab 1936 nicht mehr für das Dritte Reich gearbeitet, oder? Und Werner Hochbaum drehte durchgehend für den deutschsprachigen Markt. Kann dir da also nicht ganz folgen. Oder reichte es schon, in Österreich zu leben, um als Emigrant zu gelten?

  8. Sano Cestnik on September 29th, 2011 at 13:24

    Soweit ich das verstanden habe, sind einige jüdische (und auch nichtjüdische) Filmemacher 1933 nach Österreich geflohen/ausgewichen. Um die Lage abzuwarten, weiterhin auf deutsch arbeiten zu können, etc. Österreich war ja damals noch weitgehend Österreich. Und die Filme konnte man im Idealfall ja auch ins Ausland verkaufen. Nur in Deutschland liefen sie eben nicht mehr, da die meisten Filme von und mit jüdischen Filmleuten im NS-Staat nicht mehr aufgeführt werden durften. Mit der Übernahme der österreichischen Filmwirtschaft 1936, war es dann aber auch mit diesem kleineren Zufluchtsort vorbei. Soviel also zu meinem Halbwissen. Man galt dann auch in Österreich als Emigrant. Und warum nicht? Ist ja auch ein anderes Land. Hochbaum war zwar (soweit ich weiß) kein Jude, gehörte aber zu der noch kleineren Gruppe von Leuten, die wohl aus Furcht vor Repressalien der Nationalsozialisten oder Schwierigkeiten beim Dreh ihrer „eigenwilligen“ Filme nach Österreich auswichen, wo sie ja weitgehend immer noch machen konnten was sie wollten. Und da die NS-Zensur noch nicht so weit fortgeschritten war, wurden ihre Filme auch noch in Deutschland gezeigt (siehe zum Beispiel den für NS-Verhältnisse äußerst ungewöhnlichen DIE EWIGE MASKE). Nach der wirtschaftlichen (Ver)einigung – die wohl eine faktische Unterordnung der österreichischen Filmproduktion unter die NS-Filmgesetzte war – von 1936, gab es für die jüdischen Emigranten in Österreich keine Arbeit mehr, und für Leute wie Hochbaum keinen Grund mehr in Österreich zu bleiben: es war ja dann schließlich mehr oder weniger egal ob man seine FIlme dort oder in Deutschland zu realisieren versuchte (und ich vermute mal in der Schweiz gab es nicht so viele Arbeitsmöglichkeiten im Filmbereich). Danach sind seine FIlme ja auch wieder in Deutschland entstanden, wobei zumindest die Filmtitel seiner weiteren Regiearbeiten (DREI UNTEROFFIZIERE, EIN MÄDCHEN GEHT AN LAND, HANNERL UND IHRE LIEBHABER, MAN SPRICHT ÜBER JACQUELINE) auf den ersten Blick auch nicht mehr so kontrovers erscheinen.

    Hoffentlich wird mein vorriger Kommentar durch diese Ausführungen etwas klarer. Habe da die beiden „Gruppen“ die beruflich wohl aus ähnlichen Gründen nach Österreich gingen (nichtjüdische und jüdische Filmemacher in Deutschland) etwas zusammengeschmissen. Mich interessieren jetzt vor allem die sogenannten österreichische Emigrantenfilme jüdischer Filmemacher zwischen ’33 und ’36. Habe Hochbaum daher nur erwähnt, weil ich dachte, du wüsstest (von ihm ausgehend) etwas darüber. Zumindest Richard Oswald, Walter Reisch und Max Neufeld waren aber natürlich sowieso Österreicher die lange Zeit in Duetschland gearbeitet hatten, und die dann als Juden 1933 logischerweise zunächst einmal wieder nach Österreich (zurück) gingen – deshalb ist für sie der Begriff Emigrantefilm wahrscheinlich auch etwas irreführend, und würde eher auf deutsche Filmemacher wie Hermann Kosterlitz (aka Henry Koster) passen, die eben zunächst nach Österreich emigriert sind.

  9. Schwanenmeister on September 29th, 2011 at 16:06

    Alles klar. Ich verbinde Österreich einfach nicht mit dem Begriff des Emigrantenfilms, weil die dortige Filmindustrie viel zu sehr vom Markt des deutschen Reiches abhängig war. Länder wie die Niederlande, Frankreich, Großbritannien oder die USA würden mir da spontan schon eher einfallen. Du siehst, ich fragte mich, welchen Sinn es macht, in Österreich die von jüdischen Deutschen produzierten Spielfilme von 1933 bis 1936 gesondert zu betrachten. Jetzt einmal unabhängig von der Tatsache, dass ich in vielen Fällen auch überhaupt gar nicht weiß, ob ein Regisseur jüdischen Glaubens war. Im Falle von Hochbaum dagegen weiß ich ausnahmsweise, dass er das Dritte Reich 1933 nicht wegen seines Glaubens, sondern wegen seiner politischen Gesinnung und seiner sexuellen Ausrichtung verließ. Hochbaum war sozialdemokratisch engagiert und schwul. Was die Nazis aber nicht davon abhielt, ihn schon sehr bald, nach seinem Welterfolg „Die ewige Maske“, wieder für die Ufa anzufordern und ein Marika Rökk-Vehikel drehen zu lassen. Und Walter Reischs Filmografie ist bis 1936 ungebrochen von hoher Qualität. Billy Wilder hatte seinem damaligen Idol das gerade später immer wieder vorgehalten. Dabei hat Reisch mit Willi Forst so seine vielleicht schönsten Filme machen können. Und die kamen in Deutschland heraus. Will sagen: Schön, dass wir uns gegenseitig unser Halbwissen vorhalten konnten. 😉

    Wie heißt denn der tolle Artikel?

  10. Sano Cestnik on September 29th, 2011 at 21:05

    Das mit der Abhängigkeit und Verwebung stimmt natürlich. Aber es ist immer noch das Ausland, von Deutschland aus betrachtet. Daher macht das mit dem emigrieren nach Österreich schon seinen Sinn. Dass Hochbaum schwul war, hatte ich ganz vergessen. Und dann auch noch Sozialdemokrat – erklärt aber BRÜDER (1929) und seine Werbefilme aus dem gleichen Jahr. Dass manche Filme jüdischer Filmemacher [aus Österrecih] dann doch liefen (bis Mitte ’34 wohl zumindest ein paar) hat denke ich auch mit geänderten Titelsequenzen zu tun (kennt man ja so auch von der US-Blacklist-Ära während und nach McCarthy)- So. jetzt aber genug des Halbwissens. 😉

    Der „Artikel“ ist wohl eher ein Kapitel und stammt aus einem österreichichen Buch. Näheres dazu dann, wenn ich zu Hause bin, und das Teil zur Hand habe.

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