100 Deutsche Lieblingsfilme #17: Das Kaninchen bin ich (1965)



Wenn man gemeinhin vom deutschen Film spricht, wird oft allzu schnell vieles vergessen. Über die Weimarer Republik, die NS-Zeit und das Nachkriegskino, ist man auch schon rasch bei den Oberhausenern, beim Neuen Deutschen Film und in der Gegenwart gelandet.

Die DDR ist ebenso Ausdruck deutscher (Film-)Geschichte wie deutscher Verdrängung; Parallelen zum Nazikino treten fast von Selbst auf. Wenn Maria im Film ihren Geliebten, der gleichzeitig auch Richter ist, fragt wie das Recht sich ändert, und warum es sich ändert, so antwortet er ihr: „Jede herrschende Klasse gibt ihr positives Recht als Naturrecht, als die allgemeine Glückseligkeit aus.“ Die DDR natürlich auch, schiebt er nach, aber mit größerem Recht.

Wenn man ins 20. Jahrhundert blickt, könnte man sich fragen, welcher deutsche Staat denn nun ein Rechtsstaat war, und wie deutsche Selbstbestimmung aussah. Aus heutiger Sicht scheint es klar – aber war das Kaiserreich ein größeres Unrecht als die Weimarer Republik, haben die Nazis die Macht ergriffen, während die DDR von der Arbeiterklasse hervorgebracht wurde, und hat der Westen Deutschlands von seinen Besatzern eine Verfassung geschenkt bekommen, die er nach der Wiedervereinigung an die frisch Hinzugekommenen weitergab?

Die Geschichtsschreibung steckt voller Mythen, und nicht anders verhält es sich mit der Filmgeschichte. Und diese Phantome, die Konstruktionen und Rechtfertigungsversuche des Geistes, scheinen sich bevorzugt einzuschleichen, wenn es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit geht. Das Kaninchen bin ich wurde 1966 verboten, und durfte in der DDR nicht öffentlich vorgeführt werden. Es erscheint nicht als Zufall, dass er vor allem um die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart kreist.

Wenn ich mir den Film heutzutage anschaue, ist es schwierig zu entscheiden, was den Funktionären damals im Besonderen aufgestoßen haben mag. Den erwünschten Sozialistischen Realismus zeigt der Film sicher nicht, aber das hatte z.B. Berlin – Ecke Schönhauser fast zehn Jahre zuvor auch nicht gemacht. Statt Verbot gab es damals aber Auszeichnungen.

Vielleicht war das Unerhörte an diesem Werk, dass er den deutschen Faschismus als Kontinuitätslinie zeichnete, der in der DDR genauso zum Ausdruck kam, wie die überwunden geglaubten Jahrhunderte zuvor. Die Figur des Richters – mit seinen juristischen Argumentationen aber auch mit seinem Privatleben – hätte man so auch in die 30er Jahre verpflanzen können. Die Person und das Drama hätten genauso funktioniert. Es hatte sich eben nicht viel geändert.

Wenn man sogenannte Diktaturen als Sonderfälle der Geschichte darstellen, und ihre Filme sozusagen als Sonderlinien der allgemeinen Filmgeschichtsschreibung gleich mit ins Abseits stellen möchte, indem man sie vornehmlich als Zeitdokumente, als „historisch relevant“ betitelt, so übersieht man leicht die Kontinuität und die Verwandschaft, die Ähnlichkeiten des Einen mit dem Anderen, des Vergangenen und des Gegenwärtigen.

Nach über 40 Jahren seit Entstehung des Films, ist das Auffällige in erster Linie eben nicht das nihilistische Menschenbild, die marode Zeichnung der sozialistischen Gesellschaft, oder der schrankenlose Sexismus früherer Generationen. Erschreckend ist die Aktualität, die niederschmetternde Gewissheit, dass sich in der Gegenwart immer noch nichts geändert hat.

Das Schlussbild, in dem Angelika Waller als Maria Morzeck mit einem Leiterwagen in der Hand entschlossen ihren Weg zu gehen versucht, erweist sich somit nicht als historisch oder zeitverhaftet, sondern als universell. Und es ist auch keine Frau, die sich durchzusetzen versucht, sondern ein Mensch. Auch heutzutage noch – eine Utopie.

Das Kaninchen bin ich – DDR 1965 – 114 Minuten, ursprünglich 121 – Regie: Kurt Maetzig – Drehbuch: Kurt Maetzig, Manfred Bieler – Produktion: Martin Sonnabend – Kamera: Erich Gusko – Musik: Reiner Bredemeyer, Gerhard Rosenfeld – Schnitt: Helga Krause – Bauten: Alfred Thomalla – Darsteller: Angelika Waller, Alfred Müller, Ilse Voigt, Wolfgang Winkler, Irma Münch, Rudolf Ulrich, Helmut Schellhardt, Annemarie Esper, Willi Schrade, Willi Narloch, Bernd Bartoczewski

Dieser Beitrag wurde am Samstag, Dezember 18th, 2010 in den Kategorien Blogautoren, Deutsche Lieblingsfilme, Filmbesprechungen, Sano veröffentlicht. Sie können alle Kommentare zu diesem Beitrag über den RSS 2.0 Feed verfolgen. Sie können diesen Beitrag kommentieren, oder einen Trackback von ihrer eigenen Seite setzen.

5 Antworten zu “100 Deutsche Lieblingsfilme #17: Das Kaninchen bin ich (1965)”

  1. vannorden on August 14th, 2012 at 16:05

    Wirklich toll.

  2. Sano Cestnik on August 14th, 2012 at 16:24

    Ich hoffe du hast auch den Filmausschnitt entdeckt. 🙂
    Meine liebste Szene im Film.

  3. vannorden on August 15th, 2012 at 17:48

    Hab ich tatsächlich nicht entdeckt, aber die Szene ist unfassbar. Die hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung. Sollte ich doch mal wieder schauen.

  4. The Critic on Juni 7th, 2018 at 18:45

    Danke für die Besprechung. Zwischen Berlin – Ecke Schönhauser und Das Kaninchen bin ich liegt natürlich der 13. August 1961. Das manifestierte aber nur, was eh in der Gesellschaft passierte – wenn man Dokumentarfilme aus den 50ern, 60ern und 70ern vergleicht, sieht man klar, wie der initiale Optimismus, daß man hier tatsächlich eine bessere Gesellschaft aufbaut, von den Cordhütchenbürokraten zerstört wurde.
    Und wenn wir von Kontinuitäten sprechen wie der, daß die Sieger die Geschichte schreiben – es scheint, daß dies bisher der einzige DDR Film ist, der es in eure Rubrik 100 Deutsche Lieblingsfilme geschafft hat. Kleine Erinnerungsstütze: https://letterboxd.com/thecritic/list/the-other-germany/

  5. Sano Cestnik on Juni 9th, 2018 at 02:16

    Danke fürs Lesen!

    Ja, die Mauer. Es ist natürlich klar, das sich in zehn Jahren unglaublich viel ändern kann. Oder eben kaum etwas. Der Traum vom real existierenden Sozialismus…

    Dass innerhalb der „deutschen Reihe“ dieser der einzige bisher besprochene DDR-Film ist, ist bedauernswert, aber im Grunde einfach dem Zufall geschuldet. Aus der Kaiserzeit haben wir nicht einmal einen Film besprochen… Die Auswahl ist generell rein zufällig, und folgt Lust und Laune (und kreativer Eingabe) der Autoren.

    Wenn ich für mich als Mitautor der Reihe spreche, so wird hier von mir in etwa jeder dreißigste deutsche Lieblingsfilm den ich sehe mit einem Text gewürdigt. Die anderen hätten es auch verdient, aber man kann halt nicht (einmal) über alles Großartige schreiben.

    Die deutsche Filmgeschichte ist unsagbar reich an wundervollen Filmen, und die Jahrzehnte der DDR folglich auch. Filme aus Ostdeutschland, über die ich bisher gerne für diese Reihe geschrieben hätte, wären beispielsweise folgende Meisterwerke:

    Straßenbekanntschaft (Peter Pewas, 1948)
    Karla (Herrmann Zschoche, 1965)
    Lots Weib (Egon Günther, 1965)
    Die Reise nach Sundevit (Heiner Carow, 1966)
    Schwarze Panther (Josef Mach, 1966)
    Heißer Sommer (Joachim Hasler, 1968)
    Abschied (Egon Günther, 1968)
    Sechse kommen durch die Welt (Rainer Simon, 1972)
    Lotte in Weimar (Egon Günther, 1975)
    Als Unku Edes Freundin war (Helmut Dziuba, 1980)
    Sabine Kleist, 7 Jahre (Helmut Dziuba, 1982)
    Der Aufenthalt (Frank Beyer, 1983)
    Hälfte des Lebens (Herrmann Zschoche, 1985)
    Stein (Egon Günther, 1991)
    Die Verfehlung (Heiner Carow, 1992)

    Da du Dokumentarfilme erwähnst: Es gibt aber zumindest eine weitere Verbindungslinie zum Kino der DDR innerhalb der Reihe, und zwar die Doku ABSTECHER (1992), über die Folgen des Mauerfalls, inszeniert von einem der faszinierendsten und schillerndsten Filmemacher der DDR, Ulrich Weiß: http://www.eskalierende-traeume.de/100-deutsche-lieblingsfilme-18-abstecher-1992/

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